Siebenmal muss Oli (Benny Claessens) sterben: ermordet, misshandelt, ertrunken, verdurstet. Es gibt nur wenig Zukunft in der Gegenwart.

Foto: Festwochen
Schlachtfeld Campingplatz: Marius von Mayenburgs großes, im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführtes Langdrama "Turista" erzählt in der Regie des Antwerpener Regisseurs Luk Perceval mit 24 deutschen und belgischen Darstellern das Lied vom Leid des Menschen.


Wien - Auch das ist Europa: Erde, die viel Blut getrunken hat im Laufe der Jahrhunderte. Genährt von Gewalt, die nur den Anlass sucht zum Ausbruch. Etwa in der Verletzung jener fragilen Vereinbarungen, die als Grenze Gültigkeit beanspruchen. Kriege also, und ihr innerster Schauplatz ist die Familie. Wer kennt eine Familie ohne Krieg? Ohne Verletzte, stille Leichen?

"Die Ebene von Waterloo hinter dem Teutoburger Wald an der Marne" kartografiert Marius von Mayenburg das idyllische Terrain, auf dem 24 Menschen antreten, einander und der Natur mit Campingbesteck auf den Leib zu rücken. Jeden Tag verkümmert im Gras das Glück, jeden Tag stirbt ein Kind, jeden Tag stirbt Oli. Täglich einen anderen Tod. Wer wollte von Schuld reden?

Die Familie war von Anfang an der Ort, in dessen Intimität Marius von Mayenburg (wie auffallend viele Autoren seiner Generation) die Monstrositäten einer verwirrten Gesellschaft aufspürte - und zur Explosion brachte, ob in Feuergesicht, in Parasiten, in Das kalte Kind. Wenn er nun in seinem jüngsten, soeben bei den Festwochen uraufgeführten Text Turista mehrere dieser deformierten Kleinst-Staaten in Grill- und Bierdunst aufeinander treffen lässt, verheißt das wenig erfreuliche Einblicke ins Herz der europäischen Finsternis. Zumal für die Kinder. Für Ralf, der sich täglich nass macht vor Angst und dennoch die Lederhose überstreift, in der sein Vater ihn liebkost und würgt. Für Sonja, deren Mutter nach dem Verlust eines Sohnes wahnsinnig wurde und deren Vater dennoch heiles Urlaubsidyll zu dritt beschwört. Für die Drillinge Flo, Nadine und Oli, deren Mutter Sylvie von Liebhaber zu Exmann taumelt.

Es ist die ernsthafte Zärtlichkeit, mit der Marius von Mayenburg seinen Blick auf das Leiden richtet - jenes der an sich selbst leidenden Täter-Eltern inbegriffen -, die seinen Stücken ihre fragende Intensität, frei von einfachen Schuldzuweisungen verleiht, in ihrem Ansatz vergleichbar etwa filmischen Werken wie Rosetta der belgischen Brüder Dardenne. (Deren jüngste Arbeit übrigens soeben in Cannes vorgestellt wurde.)

Szenisches Experiment

Es mag ein Zufall sein, doch ein Belgier war es auch, der Antwerpener Regisseur Luk Perceval, mit dem Marius von Mayenburg Turista entwickelte: 24 Rollen, jeweils zwölf für Percevals belgisches Ensemble, zwölf für die Schauspieler der Berliner Schaubühne, an der von Mayenburg als Dramaturg arbeitet. Ein szenisches Experiment: Das Babylon der europäischen Sprachen unmittelbar wiederzugeben. Ein Experiment, das sich - überraschenderweise - vor allem in körperlicher Hinsicht als sprachmächtig entpuppte.

Die sinnliche Selbstverständlichkeit, mit der die belgischen Akteure ihre von Pommes, Majo und Bier bedenklich gedunsenen Körper entblößten, warf ein eigentümliches Licht auf die Formstrenge des deutschen (und österreichischen) Blicks, aus dessen Schauspielschulen heute kaum ein Darsteller, eine Darstellerin hervorgeht, der nicht schmal, athletisch und ebenmäßig anzusehen wäre. Nur Schönheit, so scheint es, verdient hier zu Lande einen Platz auf der öffentlichen Bühne. Welchen Verlust solche Kosmetik der Oberfläche bedeutet, zeigte das grandiose Spiel der Belgier. Wenn Ruud Gielens als Bert bierschwer und nackt auf allen vieren zur Geliebten robbt, bewusstlos über ihr zusammensackt, wobei ihm der Speichel in einem Faden aus dem Mund auf ihren Nacken rinnt, erzählt das mehr von Traurigkeit als manche Stunde Schönschauspiel.

Doch auch das Schaubühnen-Ensemble entwickelt unter Percevals Regie ein Höchstmaß an Eindringlichkeit: Etwas David Ruland als Ralf, der, damit der Vater ja nicht wieder "traurig ist", mit eingezogenem Kopf und großer Sanftmut in die Folter-Lederhose steigt. Matthias Matschke als zwängelnder Vater einer erstorbenen Familie. Oder Bruno Cathomas als psychisch kranker Peter, der im Ferienspiel "Hänsel und Gretel" die Böse Hexe geben darf.

Im leeren Holzrund der Bühne von Annette Kurz (ein großes Styropor-Ei verschwindet nach und nach), befreit von jeglichem Camping-Realismus, finden 24 wunderbare Akteure in viereinhalb Stunden zu einem großen Spiel von der unsäglichen Traurigkeit und ernsten Schönheit menschlichen Seins. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.5.2005)