"Wahrheit konstruieren wir in Übereinstimmung mit unserem Erlebten unserer Erfahrung. Der ontologischen Wahrheit können wir uns nicht nähern": Ernst von Glasersfeld.

Foto: STANDARD/Regine Hendrich
Ernst von Glasersfeld, Begründer des Radikalen Konstruktivismus, war auf Kurzbesuch in Wien. An der Uni skizzierte er den glücklosen Griff des Menschen nach der absoluten Wahrheit. Und im Gespräch mit dem Standard machte er sich Gedanken über das laufende Gedenkjahr.

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Wien - Vor dem Zweiten Weltkrieg war Wien eine furchtbare Stadt", erinnert sich der 88-jährige Wissenschaftstheoretiker Ernst von Glasersfeld. "Die Stadt war heruntergekommen, verarmt, schmutzig und wenigstens die Hälfte ihrer Bewohner waren schon Nazis."

Heute, im Gedenkjahr anlässlich des 60. Jahrestags des Kriegsendes und des 50. Jahrestags der Unterzeichnung des Staatsvertrages, sieht der 1938 in die Emigration gezwungene Mathematiker und Kybernetiker die Stadt anders: "Wien ist schön geworden, ganz Österreich hat sich eigentlich prächtig entwickelt", konstatiert der Begründer der Wissenstheorie des "Radikalen Konstruktivismus", der für einen Vortrag Dienstagabend an der Universität nach Wien kam. Der Wahrheit wegen, mit der sich der Philosoph Jahrzehnte lang auseinander gesetzt hat und der er sich auch weiterhin widmen will. Dabei kommt ihm das Gedenkjahr mit seiner Fülle an präsentierten Wahrheiten gerade recht.

Auf Einladung von Wisdom und dem Institut für Zeitgeschichte versuchte Ernst von Glasersfeld im überfüllten kleinen Festsaal der Uni den interessierten Zuhörern seine Theorie zu erklären. Dabei handelt es sich um eine recht unkonventionelle Weise, die Probleme des Wissens und Erkennens zu betrachten. Der Radikale Konstruktivismus beruht auf der Annahme, dass alles Wissen, wie immer man es auch definieren mag, ausnahmslos in den Köpfen von Menschen existiert.

Daraus ergibt sich, dass der denkende Mensch, der Homo sapiens, sein Wissen nur auf der Grundlage eigener Erfahrung konstruieren kann. Allein das, was der Mensch aus seinen Erfahrung macht, bildet schließlich die Welt, in der er bewusst lebt. Das Wissen und damit die vermeintliche Wahrheit wird vom denkenden Menschen also nicht passiv aufgenommen, sondern von ihm selbst aktiv aufgebaut. Die Wahrnehmung dient dabei der Organisation der Erfahrungswelt, nicht aber der Entdeckung der ontologischen Realität, also der absoluten Wahrheit. Gibt es eine solche denn überhaupt?

Unerreichbare Wahrheit

"Natürlich" zeigt sich Ernst von Glasersfeld im Gespräch mit dem STANDARD überzeugt. "Unser großes Problem ist nur, dass wir uns dieser ontologischen Wahrheit nicht nähern können." Was bleibt, seien konstruierte Wahrheiten, jeweils in Übereinstimmung mit dem Erlebten und Erfahrenen. Aber birgt diese Theorie nicht auch die Gefahr, als Entschuldigung für die Verbreitung falscher Wahrheiten, respektive falscher Ordnungen von Erfahrungswelten missbraucht zu werden? Was ist zum Beispiel mit den Menschen, die den Holocaust leugnen? Was ist mit Politikern wie Siegfried Kampl, der die "brutale Naziverfolgung" bedauert, und John Gudenus, der die Existenz von Gaskammern in Frage stellt? Argumentieren nicht auch sie aus einer selbst konstruierten Wahrheit heraus?

"Wer heute sagt, es hätte keine KZ oder keine Gaskammern gegeben, der lügt", stellt Glasersfeld klar. "Aber Sie haben Recht. Es ist seine konstruierte Wahrheit." Und das größte Problem der Gesellschaft im Umgang mit diesen Lügen, die gleichsam individuelle Wirklichkeiten darstellen, sei: Die Gesellschaft könne eigentlich nichts dagegen tun. "Wir können Wahrheiten von anderen nicht umkonstruieren." Man könne diesen Leuten, die selbst die Erfahrung der Bestialität der Naziherrschaft nicht gemacht haben, noch so viele Fotos, Dokumente und auch Zeitzeugen vorführen, "sie würden alles als Fälschung abtun und bei ihrer eigenen Wahrheit bleiben." Hier nützten keine Gedenkjahre, keine Ausstellungen, keine Diskussionen. Wie aber wird eine solche Wahrheit konstruiert?

"Da spielen sehr viele Faktoren mit", erklärt der 1917 als Sohn eines k.u.k. Diplomaten und einer Schirennläuferin in München geboren Glasersfeld, der in Südtirol und der Schweiz mehrsprachig aufgewachsen ist und in Zürich und Wien studierte. "Das beginnt bei Erlebnissen in der Erziehung, geht über das soziokulturelle Umfeld, und endet bei Interessen. Und alle Erfahrungen werden schließlich interpretiert und zu einem Weltbild zusammengesetzt."

Konstrukt einer Sinn stiftenden Wirklichkeit

Von besonderer Bedeutung dabei seien auch neurophysiologische Mechanismen der Wahrnehmung: Aus einer unstrukturierten Fülle unspezifischer Wahrnehmungs- und Sinneseindrücke versucht das Gehirn möglichst stabile, Sinn stiftende Wirklichkeiten zu konstruieren. Das passiert jedoch weder wertfrei noch objektiv, sondern ist von der individuellen geistigen Verfassung, den jeweiligen Zielen, Wünschen und Erwartungen bestimmt. Und noch etwas sei entscheidend: die Wechselwirkung zwischen Beobachter und Beobachtetem - daher könne all das, was der Mensch zu erkennen glaubt, nicht die Abbildung einer vom Erleben unabhängigen Welt sein, sondern eben nur eine konstruierte Wirklichkeit. Oder, wie es Heinz von Foerster, mit dem Glasersfeld lange und intensiv zusammen gearbeitet hat, einst provokant formulierte: "Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung."

Für einen tief religiösen Menschen, "der in Lourdes die Mutter Gottes gesehen haben will, ist das Wirklichkeit", veranschaulicht der heute am Scientific Reasoning Research Institute der University of Massachusetts, USA, arbeitende Glasersfeld. "Und vielen, denen die Auseinandersetzung damit und der Glauben daran in die eigene Erfahrungswelt eingedrungen ist, wurde die Erscheinung zur eigenen Wahrheit."

Glasersfeld entwickelte seinen Radikalen Konstruktivismus, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Kritischen Rationalismus und andere Denkmodelle als Leittheorie in den Kultur- und auch in den Naturwissenschaften zum Teil ablöste, erst spät. Seine Flucht führte ihn 1938 über Frankreich nach Irland. Nach 1945 arbeitete er als Journalist, dann war er Mitarbeiter von Silvio Ceccato in Mailand an einem Projekt zur maschinellen Übersetzung. Von 1970 bis 1987 war er Professor für kognitive Psychologie an der University of Georgia, USA. Dort entwickelte er die erste Schimpansensprache "Yerkish". Erst seine Beschäftigung mit Piaget brachte ihn zur Arbeit am Radikalen Konstruktivismus. Wenngleich der dahinterliegende Grundgedanke nicht neu war. Seit Platos Höhlengleichnis kamen immer wieder Zweifel auf, ob die Welt vom Menschen überhaupt erkannt werden kann.

Glasersfeld selbst ist sich heute jedoch nicht so sicher, ob seine Theorie tatsächlich jenen großen Einfluss auf Geistes- und Naturwissenschaften hat, der ihr nachgesagt wird. Vor allem in der Philosophie vermisst er ihn. Für die Gesellschaft und ihre Kultur könnte eine intensivere Auseinandersetzung damit jedoch einen Nutzen haben: Die Erkenntnis, dass nicht nur andere, sondern auch eigene Wirklichkeiten nur konstruiert sind, bedingt Toleranz. (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.05.2005)