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STANDARD: Ein Gedankenexperiment: Es ist der 2. Mai 2020, der Tag der Arbeit ist vorbei. Wie sieht die Arbeitswelt in dem gar nicht fernen Jahr aus?

Marin: In Österreich werden wir Vollbeschäftigung haben, schon aus demografischen Gründen. Die letzte Rüttelstrecke jahrzehntelanger Arbeitslosigkeit geht absehbar zu Ende.

STANDARD: Wie geht das?

Marin: Geburtenschwache Jahrgänge entlasten den Arbeitsmarkt. Wir werden bis zu einer Dreiviertelmillion Menschen weniger im Erwerbsalter haben.

STANDARD: Dann werden wir viel länger arbeiten müssen.

Marin: Richtig, zumindest alle bis 65, später bis 68. Mehr als 1,5 Millionen 50- bis 65-Jährige sind 2010 die stärkste Gruppe am Arbeitsmarkt. Doch der-zeit sind bei den Frauen über 50 mehr als 80 Prozent inaktiv, nur 0,9 Prozent arbeitslos. Erwerbslosigkeit, nicht Arbeitslosigkeit ist das Problem. In Schweden arbeiten 70 Prozent, in Österreich ruhen 70 Prozent in diesen "besten Jahren".

STANDARD: Welche Folgen wird die neue Vollbeschäftigung 2020 haben?

Marin: Man wird Leuten, die heute oben mit Golden-Handshake und unten auf unsanftere Art aus den Unternehmen gedrängt werden, Teppiche ausrollen, sie umwerben. Arbeitskräfteknappheit, heute nur bei Hochqualifizierten, wird verbreitet sein.

STANDARD: Jeder wird zwischen mehreren Jobs wählen können?

Marin: Fast alle, außer Ungelernte, die keine Working-Poor-Löhne hinnehmen, sie werden es weiter schwer haben. Es wird aber keine konfliktfreie Gesellschaft sein, wie bis in die Sechzigerjahre wird es Inflationsdruck, mehr Verteilungskämpfe geben. Das ist aber anders, als um seinen Job zu zittern.

STANDARD: Die Situation in Europa ist derzeit eine andere. Industriearbeitsplätze gehen im alten Teil des Kontinents durch Verlagerung in den neuen, billigeren Teil verloren. Wo bleiben denn die neuen Jobs?

Marin: Die können nur bei den Dienstleistungen entstehen. Gesundheit, Pflege, Bildung, F & E,Tourismus, Kultur, Infrastruktur, industrienahe Services - und exportierbare.

STANDARD: Experten zerbrechen sich seit Langem die Köpfe, wie neue, bezahlte Jobs entstehen könnten - mit mäßigem Erfolg. Was läuft falsch?

Marin: Ach vieles, alles ist sehr komplex. Wir leben etwa immer noch in einer Gesellschaft, in der Haushaltsproduktion, meist von Frauen geleistete unbezahlte Arbeit, wichtiger ist als bezahlte Berufsarbeit, Marktproduktion. Erbrachte Leistungen marktfähig machen, Arbeit fairer verteilen zwischen Männern und Frauen, bezahlte Arbeit nach Wahl - das würde helfen. Die Mehrheit ist derzeit mit dem Ausmaß ihrer Arbeitszeit unzufrieden: Einige wenige möchten länger, ein größerer Teil möchte eher 28 bis 35 Wochenstunden arbeiten.

STANDARD: Die Leute wünschen sich Flexibilität, können das aber nicht ausleben?

Marin: Familienfreundliche Wahlarbeitszeit, so das Zauberwort für arbeiten à la Carte, wird einfach nicht angeboten, trotz großer Nachfrage.

STANDARD: Wenn sich die Leute verwirklichen könnten durch Abstreifen des starren Arbeitszeitkorsetts, würde dann auch die Zufriedenheit steigen?

Marin: Das vor allem. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Vermutlich mehr Kinder. Fünf bis 6,5 Prozent mehr Beschäftigung, rund 150.000 weniger Arbeitslose. Produktivitätsgewinne bis 30 Prozent, das rechnet sich. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.5.2005)