Bild nicht mehr verfügbar.

Premier in Nöten: Paul Martin muss sich vielleicht bald nach einem neuen Job umschauen.

Foto: Reuters/Chris Wattie
Vancouver - Die liberale Minderheitsregierung Kanadas befindet sich in einer schweren Krise. Brisante Zeugenaussagen im Rahmen einer Korruptionsuntersuchung haben Premierminister Paul Martin in arge Bedrängnis gebracht.

Bei der vom Fernsehen live übertragenen Untersuchung wurde enthüllt, dass die regierenden Liberalen vor mehreren Jahren Steuergelder in der Höhe von rund 60 Millionen Euro für die eigene Partei missbraucht haben. Diese Gelder waren eigentlich für eine staatliche Kampagne gegen separatistische Bestrebungen in der frankofonen Provinz Quebec gedacht.

Illegale Kassen

Viele Millionen sollen aber laut Zeugenaussagen über Firmen, die den Liberalen nahe standen, illegal in die Kassen der Partei geflossen sein. Außerdem seien angeblich liberale Wahlkampfhelfer mit Richterposten belohnt worden. Die Opposition fordert nun Konsequenzen und drängt auf Neuwahlen im Juni. Regierungschef Paul Martin sah sich am vergangenen Donnerstag gezwungen, in einer Rede an die Nation teilweise die Verantwortung für die Verfehlungen seiner Partei, die in die Zeit seines Vorgängers Jean Chrétien zurückgehen, zu übernehmen.

Martin warb in fast unterwürfiger Weise dafür, das Ende der Untersuchung abzuwarten. Er versprach, nach dem Verdikt des von ihm berufenen Untersuchungsrichters John Gomery innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen anzusetzen. Das könnte bereits im Januar 2006 sein.

Gespaltene Partei

Paul Martin hatte im Dezember 2003 Jean Chrétien aus dem Amt gedrängt und war Regierungschef geworden. In den Wahlen vom Juni 2004 vermochten die Liberalen wegen der Korruptionsvorwürfe nur eine Minderheitsregierung zu bilden. Der frühere erfolgreiche Finanzminister Martin hat sich als glückloser, zaudernder Regierungschef erwiesen, der viel verspricht, aber Mühe mit Entscheidungen hat.

Der Korruptionsskandal hat die Liberale Partei in der Mitte entzweigespalten. Die Opposition, allen voran die Konservative Partei, will das Kabinett so schnell wie möglich zu Fall bringen. Allerdings ist auch sie gespalten. Die kleine linke New Democratic Party verlangte erfolgreich, dass der Premierminister - im Austausch für ihre Unterstützung - geplante Steuerkürzungen für die Wirtschaft in Milliardenhöhe in Sozialausgaben umwandle. Politische Beobachter fragen sich allerdings trotzdem, ob die Minderheitsregierung auf diese Art und Weise lange überleben kann.

Offen ist auch die Frage, wie viel Martin in seiner damaligen Eigenschaft als Finanzminister selbst von den Machenschaften gewusst hat. In Meinungsumfragen haben die Liberalen jedenfalls dramatisch an Unterstützung verloren. Dagegen sind in Quebec die Separatisten, die ihre Provinz vom Bundesstaat abspalten möchten, wieder im Aufwind. Viele Bürger in Quebec fühlen sich von den regierenden Liberalen hintergangen. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.04.2005)