Der Zukunftskommission des Bildungsministerium geht es mit der Gesamtschule wie dem australischen Ureinwohner, der seinen alten Bumerang loswerden möchte: Er versucht ihn möglichst weit wegzuwerfen und der verflixte Bumerang kommt immer wieder zurück.

In der Erstfassung des "Zukunftsberichts" gelang der Kommission, die den Auftrag hatte, eine umfassende Analyse aller Problemfelder inklusive der Schulorganisation vorzunehmen, das Kunststück, die Malaise der Schule der 10-15-Jährigen und die sich daraus ergebende Konsequenz einer Einführung der Gesamtschule mit keinem Wort zu erwähnen. In dem soeben vorgelegten Endbericht bringt die Kommission ein weiteres Kunststück fertig, nämlich gleichzeitig für und gegen die Gesamtschule zu sein, was allerdings nicht ohne etliche argumentative Verrenkungen und Widersprüche abgeht.

Wie die Kommission angesichts der von ihr selbst auf aufgezeigten Pathologie des österreichischen Sekundarschulsystems zu einer janusköpfigen Aussage wie der folgenden kommen konnte, ist rätselhaft: "Einen echten Fortschritt gegenüber dem alles in allem funktionierenden gegliederten Schulsystem, das wir derzeit haben, könnte die Kommission nur in einer 'großen Lösung' sehen: Der flächendeckenden Einführung von 'Gemeinschaftsschulen' als Regelschulen." (S. 17)

Die Kommission spricht selbst von zu früher Auslese, sozialer Segregation, mangelhafter Ausschöpfung der Begabungsreserven - und das Resümee daraus ist "alles in allem funktionierend"? Und was verbirgt sich hinter der kryptischen Formulierung "könnte"? Was hindert die fünf Experten daran, sich klar, eindeutig und in Einklang mit ihren Befunden für eine "große Lösung" auszusprechen?

Pappkameraden Aus unerfindlichen Gründen schießt die Kommission stattdessen ein paar selbst gebastelte Pappkameraden ab:

[] Sie ist gegen eine "Gesamtschule light" (was immer das sein soll). Gibt es irgend jemanden in Österreich, der je dafür war?

[] Sie ist gegen eine "Eins-zu-eins-Übernahme" ausländischer Gesamtschulsysteme. Hat das je irgendjemand verlangt?

[] Sie ist gegen "Gesamtschulen als Angebotsschulen". Wünscht sich irgendjemand Pseudo-Gesamtschulen, die, wie man seit Jahrzehnten europaweit weiß, unter dem "Absahn-Effekt" leiden, das heißt, als Angebotschulen die ambitionierteren Eltern und Kinder an die gymnasialen Schulen verlieren?

In dem in den Endbericht neu eingefügten Exkurs "Qualitätsentwicklung versus Strukturveränderung" steckt ein fundamentaler Irrtum. Diese Alternative gibt es nämlich nicht. Wie in allen anderen Ländern geht es auch in Österreich um Qualitätsentwicklung im Rahmen von Strukturveränderung. Die Struktur eines (Schul-)Systems ist die Voraussetzung für seine Funktionalität und Qualität. "Äußere Reform" ist logisch und zeitlich der "inneren Reform" vorgeordnet. Wer beginnt bei der Renovierung eines Hauses, das schwere Risse im Fundament aufweist, mit der Installierung neuer Badezimmer? Wer beginnt bei der Renovierung eines Oldtimers, dessen Karosserie durchgerostet ist, damit, dass er ihn zuallererst mit eleganten Sitzen ausstattet?

Eine überflüssige Fleißaufgabe der Kommission war der Versuch zu begründen, warum der österreichischen Seele die Wahrheit nicht zumutbar sei, dass die Schule der 10-15-Jährigen eine Neustrukturierung braucht: Die Zeit sei nicht reif dafür, denn "die Tradition (habe) tiefe Spuren in den Bewusstseinslagen aller Handlungsträger im Schulsystem ... hinterlassen"; die Einführung eines integrativen Schulsystems sei ein "äußerst risikoreiches Unterfangen".

Scheuklappen Anstelle dieser poetischen schulpolitischen Götterdämmerungsvisionen hätte die Kommission einen nüchternen Blick nach Europa werfen sollen. Nirgendwo hat man auf den "idealen" Zeitpunkt für Neuerungen gewartet. Wie bei allen Reformen gesellschaftlicher Einrichtungen blieb der Bildungspolitik nirgendwo der mühsame demokratische Interessenausgleich erspart, auch nicht in den skandinavischen Ländern, die ihre Gesamtschulreformen schon vor Jahrzehnten durchgeführt haben - bekanntlich (siehe Pisa) mit nachhaltigem Erfolg. In Schweden, Finnland und vielen anderen Ländern erwies sich die Gesamtschulreform als "Katalysator" für eben jene innerschulische Qualitätsentwicklung, die der Zukunftskommission völlig zurecht sehr am Herzen liegt.

Hätte die Kommission internationalen Entwicklungen mehr Augenmerk geschenkt, hätte sie mit einiger Sicherheit ihren "Schnellschuss" in Richtung Reform der Lehrerbildung unterlassen, denn das ist ein Bereich, dessen Komplexität in der Tat nach einer eigenen Kommission verlangt.

Gegen die vorgeschlagene Aufwertung und Professionalisierung des gesamten Lehrberufs und eine Anpassung an das Bachelor-Magister-Studienmodell der Europäischen Union ist wenig zu sagen. Die Kommission stellt jedoch das in vielen europäischen Ländern übliche "konsekutive Modell", bei dem auf ein weitgehend fachlich orientiertes Grundstudium eine auf den Lehrberuf ausgerichtete, pädagogische und schulpraktische Ausbildung folgt, auf den Kopf. Sie schlägt vor, dass alle Arten von Lehrern, von der Kindergartenpädagogin bis zum Oberstufenlehrer, zuerst an einer Pädagogischen Hochschule ihr pädagogisches Rüstzeug im Rahmen eines dreijähriges Bachelor-Studium erwerben sollen, ehe sie alle an einer Universität ein ihrer zukünftigen Schulform und Bildungsstufe entsprechendes fachorientiertes Magisterstudium absolvieren.

Man kann nur gespannt darauf warten, was die zur Zeit in Umwandlung zu Hochschulen begriffenen Pädagogischen Akademien und die Universitäten zu diesem Vorschlag sagen werden. Seine Umsetzung würde eine gewaltige Verlagerung der Studentenströme an die Pädagogischen Hochschulen bedeuten und von allen Uni-Instituten, die Lehramtskandidaten ausbilden, einer völlige Neudefinition ihrer Rolle erfordern.

Es könnte sein, dass in nächster Zeit mehr durch die dünne Luft der österreichischen Bildungspolitik fliegt als bloß der Gesamtschul-Bumerang, nämlich die Fetzen. (DER STANDARD-Printausgabe, 23.4.05)