Foto aus dem Band "Wenn ich mal richtig ICH sag . . ."

Die Fotos zeigen den Autor als ganz jungen und als etwas älteren Mann. Alle Bilder stammen aus dem wunderbaren, bei Steidl erschienen Band "Wenn ich mal richtig ICH sag . . ."

Foto aus dem Band "Wenn ich mal richtig ICH sag . . ."
Ein Foto, aufgenommen von der damals erst sechsundzwanzigjährigen, später berühmt gewordenen Porträtfotografin Annelise Kretschmer, am 25. Oktober 1929 in der Frauenklinik Dortmund. Es zeigt eine aparte Hebamme, die in ruhiger Konzentration ein eben erst abgenabeltes Kind in sein erstes Bad taucht. Die Bildunterschrift "Frühe Zuwendung und öffentliches Aufsehen" lässt den leicht angeschrägten Ton des Lesebilderbuchs Wenn ich mal richtig Ich sag . . . anklingen, das vergangenen Herbst zum 75. Geburtstag des artistischen Poeten und kritischen Zeitgenossen Peter Rühmkorf erschienen ist.

Um noch eins draufzusetzen, erwähnt der Kommentar, dass zu diesem historischen Datum, dem so genannten "Schwarzen Börsenfreitag", die Bebenwellen an der New Yorker Wallstreet das Wochenbett der Mutter erschüttert haben müssen. "Bleib erschütterbar und widersteh", wird der Poet Jahrzehnte später dichten. Ein zum Song vertontes, von seinen Fans immer wieder eingefordertes Gedicht, das von alternativen Geistern im Widerstand gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben oder die Ausrottung des letzten Elb-Aals angestimmt wird, bis es dem in Hamburg ansässig gewordenen Dichter selbst schon wie Pappe im Mund klebt.

Ständige Wiederholung, Reduktion auf die politische Botschaft, so fürchtet er, kann subversive Kunst gefährden. Denn so engagiert der "rote Rühmkorf" auch zeitlebens ist, so sehr er in seiner Korrespondenz mit Adorno l'art pour l'art eine Absage erteilt, so kompromisslos er in den 60ern gegen Axel Springer, in den 90ern gegen den Golfkrieg und in den 2000ern für ein sozial gerechtes Deutschland eintritt, er hat nie platte Tendenzpoesie, sondern immer Kunst im Sinn, die "von mir zu Euch für uns" unberechenbare Funken schlägt. "Du sollst nicht so wie alle sein, doch manchmal musst Du viele sein", schreibt er in dem Bestreben, zwar eine kritische Menge von Individuen, aber keine gesichtslose Masse anzusprechen. Oder in seinem haltbarsten lyrischen Selbstporträt, in dem sich das poetische Ich arbeitshypothetisch auf ein Seil katapultiert, auf dem es, die Gesetze der Schwerkraft einkalkulierend, die Balance zu finden gilt: "Die Loreley entblößt ihr Haar, am umgekippten Rheine, Ich schwebe graziös in Lebensgefahr, grad zwischen Freund Hein und Freund Heine."

Wenn ich mal richtig Ich sag ist demgemäß keine Festschrift in eigener Sache, sondern ein Buch, das einem sowohl um Individualität wie Solidarität geprägten Künstlerleben im unsentimental-selbstironischen Längsschnitt folgt. Existenznöte, Niederlagen, Widersprüche inbegriffen. Denn Rühmkorf, der heute neben Grass und Enzensberger zur Hautevolee der deutschsprachigen Literaturszene zählt und vom Arno-Schmidt- über den Heinrich-Heine- bis zum Georg-Büchner-Preis mit fast allen Auszeichnungen überhäuft wurde, die sich ein Schriftsteller nur wünschen kann, wurde der Erfolg nicht in die Wiege gelegt.

In die Wiege gelegt wurde ihm allerdings jener Stoff, der nach allem, was die produktionsästhetische Grundlagenforschung herausgefunden hat, zum Impuls für künstlerische Selbstverwirklichung wird. Denn meistens sind es nicht die unhinterfragt geborgenen, in ebenso intakten wie langweiligen Familien aufgewachsenen Menschen, deren Ego nach schöpferischem Ausdruck verlangt, sondern partout jene, deren wacklige Identität und deren unsichere Stellung im gesellschaftlichen Umraum nach renitenter Selbstbehauptung sucht. Es sind die Brüche, die zum Schreiben animieren, und davon gibt es in Rühm- korfs Vita genug.

Das anno 1929 ins erste Bad getauchte Kind ist ein uneheliches, zu Zeiten, als das noch nicht als akzeptierte Normalität, sondern als unverzeihliche Regelverletzung gilt. Zur Welt gebracht von der biederen Pastorentochter und Religionslehrerin Elisabeth Rühmkorf, die auf einen reisenden, der Fama gemäß entfernt mit Rilke verwandten Puppenspieler hereingefallen war. Noch mit 90, kurz vor ihrem Tod, hätte sein Mütterlein jederzeit ein Taxi genommen, um zur einzigen Liebe ihres Lebens zu fahren, hätte sie gewusst, wo jener Schausteller denn wäre, erzählt Rühmkorf, der den Namen des Vaters noch heute nicht preisgibt. Er selbst, der nie nach seinen biologischen, sondern immer nach seiner ideellen Wurzeln gesucht hat, wird ihn weder kennen lernen, noch kennen lernen wollen.

Zwei Jahre lang wächst er bei einer Pflegefamilie in Dortmund auf, bis sich die Pastoren-Oma ein Herz fasst und den Pastoren-Opa davon überzeugt, den niedlichen Enkel endlich in das niedersächsische Heimatdorf zu holen. Hier lebt er nun als angebliches Adoptivkind seiner leiblichen Mutter und kann immerhin einen imponierenden Patenonkel vorweisen.

Der weltberühmte, protestantische Theologe Karl Barth, selbst mit zwei Frauen liiert schickt jedes Jahr zum Geburtstags- oder Weihnachtsfest gute Literatur. Ein Büchersegen, der auch nicht abreißt, als Barth von den Nazis als "Volksfeind" diffamiert, seines Lehrstuhls enthoben und zur Emigration gezwungen wird.

Mit der Machtübernahme der Nazis brauen sich dunkle Wolken auch über einem Knaben unklarer Herkunft zusammen, der - so Rühmkorf im Rückblick auf sich selbst - aussah wie "ein leibhaftiges Kind Israels". Der große Schutzpatron Barth ein "Vaterlandsverräter", der leibliche Vater verschwunden und für einen zweifelsfreien Ariernachweis alles andere als brauchbar. Tapfer erfindet sich der Bub neue Identitäten - so wird man zum Dichter. Die Frage hinter der Vaterfrage ("lebenswert oder nicht?") ahnend, erklärt er neuen Lehrern oder auch nur dem Fahrkartenkontrolleur, den Papa in den Grünkohl geschmissen zu haben, und bemüht sich in der Folge, unter den Nazi-Pimpfen zu reüssieren. Gegen Ende des Krieges ist aber Schluss mit dieser Art von Anpassung. Gemeinsam mit verschworenen Freunden hortet er die aus den Flugzeugen der Amerikaner abgeworfenen Propagandaschriften und bastelt für den Fall der Entdeckung an einer Bombe, die eventuelle Angreifer in die Luft sprengen soll. Zum Glück kommt es nicht so weit.

Nach dem Krieg - Rühmkorf ist gerade 16 Jahre alt - steht ihm der Sinn nach Frieden, Dichtung und moralischer Erneuerung seiner Landsleute. Wie Borchert, über den er eine Rowohlt-Monografie verfassen wird, befinden sich er und seine Gesinnungsgenossen "draußen vor der Tür", das ist nicht nur eine Frage des bedürftigen Seins, sondern eine des Bewusstseins.

Als der Wiederaufbau, die Währungsreform 1948 und der zunehmende Wohlstand jegliches Nachdenken über die Vergangenheit hinwegschwemmen, beharrt Rühmkorf auf seinem existenziellen Hunger und reagiert mit Magersucht auf die Zumutung, in einem geschichtsvergessenen Land erwachsen zu werden. "Leiche auf Urlaub" nennen ihn seine Freunde, deren Magennerven weniger empfindlich sind. Ungefähr so steht es in Rühmkorfs erster, mit 40 Jahren verfasster Autobiografie Die Jahre, die ihr kennt, in der seine persönliche "Scheitergeschichte" in Relation zur Erfolgsgeschichte der deutschen Bundesrepublik exemplarisch aufgearbeitet ist.

Desillusioniert vom Niedergang der nicht zuletzt an den eigenen Querelen auseinander gebrochenen, antiautoritären Protestbewegung der späten Sechzigerjahre und niedergedrückt vom vergeblichen Versuch, endlich von der Schriftstellerei leben zu können, rekapituliert der vorübergehend ausgepowerte Mann in prägnanten Memos sein Leben. Doch, da waren gewisse Höhepunkte wie die Publikationen des ersten Gedichtbandes Heiße Lyrik (1956), das Debüt bei der Gruppe 47 (1960) oder die Publikation des zweiten Gedichtbandes Irdisches Vergnügen in g (1959), der ihm neben herben Verrissen auch nachhaltiges Lob des großen Arno Schmidt eintrug.

Auch die in fünfzehnjähriger Sammlertätigkeit gewachsene Anthologie Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund (1967), in der Rühmkorf, ein "kraß roter Romantiker, dem Volk von der linken Seite her aufs Maul" geschaut hat, ist ein respektabler Erfolg, aber für die Miete reicht das nicht.

Rühmkorf, der mit mäßigem Elan Pädagogik und Kunstgeschichte studiert und seit der ersten Stunde (1951) unter drei Pseudonymen nur für Gottes Lohn an Klaus Werner Röhls Studentenkurier (später Konkret) mitarbeitet, heuert 1959 als Lektor bei Rowohlt an. Nun bleibt noch weniger Zeit für die eigene Produktion. Doch die Aktien für Kunst stehen damals ohnehin schlecht. Zwar gelingt es ihm noch gemeinsam mit dem Musiker Michael Naura, seine Lyrik samt Jazz am offiziellen Literaturbetrieb vorbei, direkt auf den Markt und ans Publikum zu bringen (legendärer Auftritt 1966 am Hamburger Adolphsplatz mit Blick aufs Bankenviertel), aber dann ist es mit dem Dichten für ein Jahrzehnt vorbei.

Unmittelbare politische Wirkung wird von der Literatur verlangt. Rühmkorf schreibt nun Theaterstücke, die ihm politisch effizienter erscheinen. Lombard gibt den letzten zum Beispiel, eine Parabel auf das kapitalistische Wirtschaftsleben, in der er - fast prophetisch - Aspekte der Globalisierung voraussieht, die erst heute wirklich absehbar sind. Notabene wird er dafür keinen adäquaten Bühnenboden finden. Es sind die Tagebuchaufzeichnungen und Memos, über die er schließlich in die Poesie zurückfindet. Balladenartige Gedichte, entwickelt aus seinen Notaten voll "Hoffen und Hangen/ Schnaps und Bangen", die das gefährdete, poetische Ich spätestens im letzten lyrischen Schlenker an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht.

Rühmkorf, der immer mehr als nur ein Ich für sich in Anspruch genommen hat ("Es muß doch noch einen anderen Weg ums Gehirn rum geben!") lebt mit seiner Ehefrau Eva, ehemals sozialdemokratische Kultusministerin von Schleswig-Holstein, zu Hamburg/Övelgönne in einem pittoresken Kapitänshäuschen. In der ehelichen Etage leidliche Ordnung, mit freundlicher Nachsicht bewacht von der Hausfrau (Hauptsache, die Blumen vertrocknen nicht, während sie auf Reisen ist). In der Dachstube aber west nur der Dichter ("einer aus dem Graupelhaufen, nur um einen Flicken bunter"): schöpferisches Chaos. Bücher, Ferngläser, Briefe, Tabletten, die Schreibmaschine (Olympia Monika) und die nur mehr mit Mineralwasser verdünnt zugeführte Droge Alkohol in diversen Whisky- und Sektflaschen. Jedenfalls kein freier Sessel, auf dem eine Besucherin Platz nehmen könnte. Denn überall, auch auf dem Fußboden, lagert beschriftetes Papier.

Tagesnotizen, Einfälle, Aper¸cus, Dokumente einer in jeder Lebenslage eingehaltenen eisernen Disziplin, die Rühmkorf seit Jahrzehnten durchhält. Der ältere Teil des Materials wurde im atomsicheren Literaturarchiv von Marbach weggebunkert und wird bei Bedarf herangeschafft. Viele Gedichte und zwei brisante Tagebücher hat der Autor inzwischen aus diesem Rohstoff gefiltert. 1989 erschien TABU I, in dem er die Wendejahre kritisch reflektiert.

Klar freute er sich als bekennender Patriot über das Zusammengehen der deutschen Brüder, aber musste und durfte das ausschließlich unter den Aspekten einer kapitalistischen Übernahme geschehen? Das im vergangenen Jahr erschienene TABU II springt chronologisch 30 Jahre zurück und fängt ebenjenes "rote Jahrzehnt" ein, in dem der politische Poet, der Revolte nah, aber dem Terrorismus fern, an Freunden und Bekannten zweifelt und verzweifelt, etwa an Ulrike Meinhof, die seiner Meinung nach eher aus privatem Frust denn aus politischem Durchblick in den gewaltbereiten Untergrund abgleitet. Rühmkorf, der seine persönliche Geschichte immer in Relation zur allgemeinen Historie reflektiert hat, konnte das nicht passieren. (DER STANDARD, Printausgabe vom 23./24.4.2005)

Peter Rühmkorf Wenn ich einmal richtig ICH sag . . ., € 30,40/160 Seiten. Steidl, Göttingen 2004. Peter Rühmkorf TABU I. Tagebücher 1989-1991. € 10,20/600 Seiten. Rowohlt, Reinbek 1997. Peter Rühmkorf TABU II. Tagebücher 1971-1972. € 23,60/400 Seiten. Rowohlt, Reinbek 2004.