Die Schulglocken läuten schon lange - aber nicht die Pausenglocken, sondern die Alarmglocken. Auch das Frühwarnsystem hat längst angeschlagen. Und ausgearbeitete Notfallpläne liegen zuhauf am Tisch. Von internationalen Studien wie Pisa und Timss bis zum Endbericht der Zukunftskommission, der am Mittwoch präsentiert wurde. Bloß, die Reform des österreichischen Schulsystems kommt nicht in die Gänge.

Aber allerspätestens jetzt, mit dem Abschluss der Arbeit der Expertenkommission, ist der Ball unwiderruflich bei der Politik. Und es wird viel davon abhängen, ob sich die Verantwortlichen endlich dazu durchringen, die Expertenempfehlungen, die sich in weiten Teilen mit dem Leidensdruck von Schülern, Eltern und Lehrern decken, auch umzusetzen. Allerdings sind die Vorzeichen nach den schulpolitischen Debatten der letzten Monate mehr als ungünstig. Bei der Debatte um die Abschaffung der Zweidrittelmehrheit für Schulfragen wurden wieder hohe parteipolitische Mauern errichtet. Angesichts dieses zutiefst österreichischen Treibens scheinen auch die Mitglieder der Zukunftskommission den Mumm verloren zu haben. Ihr Opus magnum ist nämlich bei genauerem Hinsehen - neben einer Reihe von ohnehin ziemlich unumstrittenen Einzelmaßnahmen wie weniger Sitzenbleiben, besserer Unterricht, bessere Lehrerausbildung, mehr Schulautonomie - ein Kniefall vor der Schulpolitik hiesiger Machart.

Denn die Experten schreiben in ihrem Endbericht den großen Satz: "Einen echten Fortschritt gegenüber dem alles in allem funktionierenden gegliederten Schulsystem, das wir in Österreich derzeit haben, könnte die Kommission nur in einer ,großen Lösung' sehen." Und sie geben dann eine kleine Antwort, die sinngemäß lautet: Die große Fortschrittslösung, von der die Experten auch genau wissen, was sie wäre, ist zu groß für Österreich - wegen politischer Aussichtslosigkeit. Es handelt sich nämlich um die "flächendeckende Einrichtung von ,Gemeinschaftsschulen' als Regelschulen" - also das Reizthema Gesamtschule. Die fünf Experten haben offenbar ihre Lektion an Parteipolitik intus, geben das große Ziel, "den echten Fortschritt", ohne Not auf und machen stattdessen Arbeitsbeschaffung für ihre Kollegen: Da der große Wurf "derzeit ohne realistische Durchsetzungschance" ist, soll eine neue Expertengruppe darüber nachdenken. Das ist eine Bankrotterklärung angesichts der Schulmisere. Es heißt nicht weniger als: Das Beste ist nicht gut genug, sondern zu gut für unsere Kinder. Ein inferiores anstatt eines ambitionierten Ziels muss vorläufig reichen. Das vorgelegte Maßnahmenpaket, das viele wichtige Vorschläge beinhaltet, reicht bei Weitem nicht an die notwendige "große Lösung" heran.

Es wird im Schulwesen ohne den großen Wurf aber nicht gehen. Schule ist ein System ineinander greifender Teile, wie ein Organismus. Das Herz dieses Organismus ist sicher der Unterricht, insofern sind alle Bemühungen, das Kerngeschäft von Schule zu verbessern, richtig. Aber Schule ist mehr als Unterricht. Schule ist Lehren und Lernen von Individuen aus unterschiedlichen sozialen Herkunftsmilieus, mit unterschiedlichen Begabungen und Schwächen, die durch die derzeitige Organisation und Struktur unseres Schulsystems höchst unterschiedlich gefördert oder auch vernachlässigt werden. Dafür gibt es nicht erst seit der Pisa-Studie viele Belege.

Auch die Zukunftskommission benennt sie: Durch "eine der frühesten Trennungen nach Leistung" schon mit zehn Jahren hat Österreich eine "mangelhafte Ausschöpfung der Potenziale der Kinder aus unteren Schichten". Besserer Unterricht durch bessere Lehrer wird deren Startchancen aber nicht wesentlich verbessern. Das nimmt die Kommission in Kauf, wenn sie der Politik Aufschub gewährt - auf Kosten der Kinder, die weiter gezwungen sind, in der zweitbesten Schule das Beste für sich herauszuholen. Unterm Strich ist das für alle zu wenig.

(DER STANDARD-Printausgabe, 14.4.05)