Irmgard Griss mag die klaren Regeln des Rechts. Die frühere Richterin ist es gewohnt, präzis zu argumentieren, und meidet Floskeln. Nur wenn sie über Bücher spricht, gerät sie ins Schwärmen. Sie lässt sich von "Harry Potter" verzaubern, schätzt die Sprache von Juli Zeh und sucht Inspiration bei Sachbüchern von Gerald Stourzh. Bücher waren für die Neos-Allianzpartnerin mit ein Grund, warum sie nicht mehr für Pink kandidieren wird: Es gibt noch so viele, die sie lesen will.

Irmgard Griss war die älteste Abgeordnete im Parlament. Über ein Ministeramt oder gar eine Präsidentschaftskandidatur will sie derzeit nicht nachdenken. Sie freut sich auf Zeit mit der Familie.
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STANDARD: Sie waren jetzt knapp zwei Jahre Abgeordnete im Parlament und haben turbulente Zeiten miterlebt – gab es Momente, in denen Sie Politik verstört hat?

Griss: Was mich abstößt, sind offenkundig populistische Aussagen. Die Verbindung aller möglicher Themen mit illegaler Migration und Islam hat mich schon sehr gestört. Das lenkt von den wirklichen Problemen ab, schürt Ängste und bringt die Gesellschaft auseinander. Migration ist nicht unser wesentliches Problem. Sicherlich müssen wir uns auch da gute Lösungen überlegen, aber wir stehen vor entscheidenden Herausforderungen wie Klimaveränderung oder Bildung. Es gibt zu viele Schüler, die die Schule verlassen, ohne lesen und schreiben zu können.

STANDARD: Sie waren auch scharfe Kritikerin der politischen Kultur im Parlament und haben sich für einen Verhaltenskodex für Abgeordnete eingesetzt. Das war ein langwieriger Prozess. Wieso?

Griss: Wir haben uns zwar auf ein Leitbild für Abgeordnete geeinigt, haben es aber nicht mehr beschlossen.

STANDARD: Hat Ihnen Ibiza-Gate noch einmal die Notwendigkeit für einen solchen Verhaltenskodex vor Augen geführt?

Griss: Die Videos sind jenseitig. Ich kann nicht fassen, dass so etwas überhaupt möglich ist. Da sieht man, wie sehr es an einer moralischen Basis fehlt. Welche Art von Politik betreiben diese Menschen? Was treibt sie an? Es geht offenbar nur um Macht, überhaupt nicht darum, was sie für das Land tun wollen.

"Machen wir uns nichts vor.Je näher der Wahltermin rückt, desto leichter fallen solche Beschlüsse", sagt Irmgard Griss über das freie Spiel der Kräfte.
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STANDARD: Dennoch wurde der Verhaltenskodex nicht beschlossen. Jetzt wäre es entscheidend.

Griss: Das verstehe ich auch nicht. Es müsste das ureigenste Interesse der Politiker sein, Befürchtungen über Korrumpierbarkeit auszuräumen. Ich dachte, ich renne damit offene Türen ein. Transparenz ist nicht nur ein Erfordernis für Staaten weiter südlich oder östlich, sondern auch bei uns. Es ist doch legitim, dass die Bevölkerung über die Entwicklung der Vermögensverhältnisse ihrer Politiker Bescheid weiß: Das ist ein Indikator dafür, wie jemand sein Amt ausübt, ob die Person Vermögensvorteile bekommen hat, die über das Gehalt hinausgehen. Es wäre doch schön gewesen, hätten wir nach Ibiza den Verhaltenskodex gemeinsam präsentiert.

STANDARD: Es gibt aktuell keine Regierungsmehrheit. Sie könnten einen Antrag einbringen.

Griss: Das wollte ich, aber es wurde von den anderen Parteien abgelehnt. Machen wir uns nichts vor. Jetzt wird nur beschlossen, worauf man im Wahlkampf verweisen kann. Da wird verteilt! Sicher, die Valorisierung des Pflegegelds hätte längst geschehen müssen. Der Zeitpunkt ist aber nicht ohne Hintergedanken gewählt. Je näher der Wahltermin rückt, desto leichter fallen solche Beschlüsse.

STANDARD: Die Neos gehen auch bei vielen Beschlüssen mit.

Griss: Das sind schwierige Entscheidungen. Stimmen Sie etwa bei der Erhöhung der Mindestpension dagegen, weil Sie eine Gesamtlösung wollen? Viele Menschen treffen ihre Wahlentscheidung nicht nach sachlichen Kriterien.

STANDARD: Es sind also nicht nur die Politiker gefragt, ihr Verhalten zu überdenken, sondern auch die Wähler?

Griss: Absolut. Wir bekommen die Politik, die wir verdienen. Nicht nur weil wir die Politiker wählen, sondern weil wir auch auf eine bestimmte Politik anspringen.

STANDARD: Da müssten Sie auch selbstkritisch sein. Vor zwei Jahren haben Sie über eine gemeinsame Wahlplattform mit Sebastian Kurz und Matthias Strolz verhandelt. Kurz war kein Unbekannter.

Griss: So habe ich mir das nicht vorgestellt. Mich hat die ÖVP-Politik dieser Regierung schon erstaunt. Sowohl die Schärfe beim Migrationsthema als auch die Indexierung der Familienbeihilfe. Das ist klar EU-rechtswidrig.

STANDARD: Die Indexierung wollte Kurz schon vor 2017. Haben Sie sich blenden lassen?

Griss: Nein, bei unseren Gesprächen ist das nicht vorgekommen. Ich hätte mir nie gedacht, dass die Antimigrationspolitik solche Ausprägungen bekommt. Diese Hetzmaßnahmen wie die Umbenennung der Erstaufnahmestellen in Ausreisezentren, das hat die ÖVP zugelassen. Es ist auch absolut unverständlich, dass Lehrlinge in Ausbildung abgeschoben werden. Man könnte eine gesetzliche Lösung finden.

"Transparenz verhindert Mauscheleien. Ich weiß ja dann, warum eine Partei diese Anliegen vertritt.": Griss fordert eine Offenlegung aller Parteispenden.
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STANDARD: Sollen die Neos im Fall der Fälle Juniorpartner der Türkisen werden?

Griss: Jede Partei, die zur Wahl antritt, muss bereit sein, in eine Regierung zu gehen. Sonst ist das Wählertäuschung. Sie müssen sich dann überlegen, was die wichtigsten Anliegen sind und wo sie Spielraum sehen.

STANDARD: Obwohl beide Parteien als wirtschaftsfreundlich gelten, gibt es große Differenzen, ja schon fast Abneigungen. Aktuell spießt es sich bei der Parteienfinanzierung.

Griss: Das ist Verhandlungssache. Möglicherweise gibt es noch vor der Wahl eine Gesetzesänderung. Transparenz ist sehr wichtig. Die Menschen sollen wissen, wer die Parteien finanziert. Es wirkt wie: Wer zahlt, schafft an.

STANDARD: Das ist doch gekaufte Politik.

Griss: Eine Parteispende ist nichts Unanständiges. Man soll aber wissen, wer hinter der Spende steckt. Wenn jemand einer Partei Geld spendet, die drauf und dran ist, in die Regierung zu kommen, dann will er, dass gewisse Vorstellungen verwirklicht werden.

STANDARD: Bei den Neos gibt es auch einen bekannten Großspender: Hans-Peter Haselsteiner.

Griss: Ja, das weiß aber auch jeder, weil immer alles offengelegt wird. Und es ist natürlich ein Unterschied, ob ich den Neos 100.000 Euro spende oder der ÖVP. Wenn die ÖVP beste Chancen hat, stärkste Partei zu werden, ist die Chance größer, dass meine Vorstellungen umgesetzt werden.

STANDARD: Hat es nicht überhaupt etwas Anrüchiges, wenn ein Unternehmer seine Interessen durchgesetzt haben will und deshalb einer Partei spendet?

Griss: Wenn das offengelegt wird, nicht. Parteien brauchen Geld, und eine Demokratie braucht Parteien. Wir haben ein gemischtes Modell aus staatlicher Förderung und Spenden. Sonst müsste man Spenden ganz verbieten.

STANDARD: Es würde reichen, Großspenden zu verbieten.

Griss: Das ist heikel. Neue Bewegungen hätten es viel schwerer, das notwendige Geld zusammenzubringen, um überhaupt etwas machen zu können.

STANDARD: Einerseits setzen Sie sich für einen Verhaltenskodex ein, um Korruption im Parlament zu verhindern, für Parteien finden Sie es aber völlig legitim, im Sinn ihrer Stifter Poliltik zu betreiben.

Griss: Transparenz verhindert Mauscheleien. Ich weiß ja dann, warum eine Partei diese Anliegen vertritt. Und umgekehrt: Warum sollte ein Unternehmer nicht jemanden unterstützen, der für seine Anliegen eintritt?

STANDARD: Was ist Ihre Bilanz der österreichischen Politik?

Griss: Das ständige Gackern nicht gelegter Eier ist gewöhnungsbedürftig. Ich empfinde es als belastend, dass man ständig sichtbar machen muss, dass man etwas tut, auch wenn es gar nicht fertig ist. (Marie-Theres Egyed, 30.6.2019)