Ein aktueller französischer Film wirft Fragen auf, die sich in jedem demokratischen Schulsystem stellen, findet Erziehungswissenschafter Karl Heinz Gruber im Gastkommentar.

Abgesehen von Rotwein und Käse haben die Franzosen noch einige andere Phänomene auf ein unübertreffliches Spitzenniveau weiterentwickelt: das Parken (auf Schutzwegen, an Kreuzungen, in dritter Spur); das blau-weiß gestreifte Herrenhemd (ohne das ein französischer Politiker praktisch nackt ist); das Schlossparktor (in seiner ultimativen Erscheinungsform als "grille d'honneur"); und nicht zuletzt den "pädagogischen" Film, das heißt Filme, in deren Zentrum eine Schule, eine Klasse, eine Lehrerin oder ein Schüler steht.

Zu den Klassikern dieses Genres gehören Bertrand Taverniers "Une semaine de vacances" ("Eine Woche Ferien"), in dem eine überforderte Junglehrerin eine Auszeit braucht, "Être et avoir" ("Sein und Haben"), der preisgekrönte Dokumentarfilm über eine ländliche Zwergschule, und "Le plus beau metier du monde" ("Der schönste Beruf der Welt), in dem Gérard Depardieu einen Lehrer spielt, der nach einer Affäre mit einer Kollegin sein feines Provinzlyzeum verlassen muss und in einer rauen Pariser Vorstadtgesamtschule landet.

Schulische Tragikomödie

Der jüngste Zugang zur langen Liste französischer Schulfilme ist "La Lutte des classes", "Der Klassenkampf", eine Tragikomödie, die zurzeit in Pariser Kinos läuft und zahlreichen Eltern von Grundschulkindern Anlass zu heftigen Debatten und schlechtem Gewissen gibt.

Im Zentrum des Films stehen ein linksliberales Paar – sie eine erfolgreiche Anwältin, er Schlagzeuger einer anarchistischen Rockband – und ihr neunjähriger Sohn. Sie haben sich in einer "sozial durchmischten" Pariser Vorstadt ein Häuschen gekauft und als überzeugte Republikaner auf das verzichtet, was bildungsbürgerliche Mittelschichteltern vor einem Wohnungskauf getan hätten, nämlich sich nach der "Qualität" der lokalen Grundschule zu erkundigen. Sie bekennen sich zum demokratischen pädagogischen Imperativ: "Schicke dein Kind in die nächstgelegene öffentliche Grundschule."

Ausschnitte von "La Lutte des classes" im Filmtrailer.
UniFrance

Flunkern bei Wohnadresse

Allmählich wird ersichtlich, dass sich der Bub in der Schule nicht wohlfühlt. Gleichzeitig beginnen befreundete, an sich auch linksliberale Eltern mit ihren Kindern von der Schule und deren migrantisch-islamischer Mehrheitskultur abzuwandern. Als der Bub immer verschlossener und schließlich verhaltensauffällig wird, nimmt das Paar nach quälenden Auseinandersetzungen Zuflucht zu zwei verpönten Praktiken: der Vortäuschung einer Wohnadresse im Einzugsbereich einer anderen Grundschule und geheuchelter Religiosität zwecks Aufnahme in einer katholischen Privatschule. Beide Versuche schlagen spektakulär und kläglich fehl.

Wenngleich der Film "sehr französisch" ist – wie Pierre Bourdieu einmal eines seiner Bücher bezeichnete -, wirft er eine Reihe von Fragen auf, die sich in jedem demokratischen Schulsystem stellen: Sollen Eltern, wenn sie mit der Schule ihres Kindes unzufrieden sind, sich aktiv in einen Prozess der Schulverbesserung einmischen, was ihr elterliches Recht, wenn nicht ihre Bürgerpflicht ist, oder sollen sie die (neoliberalen) Konsequenzen ziehen und sich auf dem "Bildungsmarkt" anderswo umsehen? "Flüchten oder standhalten", wie ein Buch des bekannten Psychiaters und Sozialphilosophen Horst-Eberhard Richter betitelt ist?

Was sollen Eltern, die mit der Schule ihres Kindes unzufrieden sind, tun?
Foto: Felix Grütsch

Konfession und "Klassenkampf"

Und wie definieren konfessionelle Privatschulen ihre Rolle im "Klassenkampf"? Was, wenn sie nicht bloß von Eltern gewählt werden, die ihre Kinder aus echter religiöser Überzeugung in einer von ihrer Konfession geprägten Schulkultur aufwachsen lassen wollen, sondern auch von Eltern, die diese Schulen – uneingestanden, aber dennoch unübersehbar – als Refugien vor den Problemen multikonfessioneller, unter Umständen mehrheitlich islamischer öffentlicher Regelschulen verwenden (oder darf man sagen missbrauchen)?

Wenn die soziale Segregation im Schulwesen durch die Abwanderung bildungsnaher, ambitionierter Eltern schon mit der Grundschulwahl beginnt, was bedeutet das langfristig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für die Befähigung der Kinder, mit kultureller Vielfalt vorurteilsfrei umzugehen?

Inklusion und Solidarität

Frankreich praktiziert in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Das ist in Österreich nicht der Fall. Angesichts der zahlreichen öffentlichen Aufrufe von Papst Franziskus zu Empathie, Inklusion und Solidarität stellt sich für österreichische Katholiken, insbesondere für die katholischen Schulämter und die Schulen betreibenden Orden, die unbequeme Frage: Leisten katholische Privatschulen ihren fairen Anteil an der Lösung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen? Bemühen sie sich aktiv um ihren fairen Anteil von Kindern, die an der Armutsgrenze leben, um ihren fairen Anteil von Kindern alleinerziehender Mütter und um ihren fairen Anteil von Kindern nichtdeutscher Muttersprache?

Sie könnten dies tun, um den Appellen des Papstes gerecht zu werden, oder auch in Anerkennung der Tatsache, dass der österreichische Staat aufgrund eines nicht unproblematischen Konkordats mit dem Vatikan aus der Zeit des Austrofaschismus den größten Teil ihrer Schulkosten übernimmt. Im Bereich der Altenfürsorge und Krankenbetreuung hat die katholische Kirche in Österreich jahrhundertelang Vorbildliches geleistet. Im Bildungswesen sieht die Bilanz nach den Kriterien des Papstes weniger eindrucksvoll aus.

Viel Ach und Weh

Wie der Film ausgeht? Zum Schluss wird es ziemlich turbulent. Anlässlich eines Umbaus der Schule, "um ihre Sicherheit zu erhöhen", stürzt ein Teil ein, und der Direktor wird von einer islamisch gekleideten Mutter, die wie eine Extrembergsteigerin eine hohe Fassade emporklettert, aus der Ruine gerettet. Der Bub, den seine Eltern mit viel Ach und Weh an einer anderen öffentlichen Grundschule untergebracht haben, flieht von dort an "seine" in Trümmern liegende Schule zurück. (Karl Heinz Gruber, 28.6.2019)