Die österreichische Autorin Sarah Wipauer am ersten Vormittag des des Ingeborg-Bachmann-Preises.

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Klagenfurt – Den ersten Tag des Wettlesens um den 43. Ingeborg-Bachmann-Preis hat am Donnerstagvormittag die deutsche Autorin Katharina Schultens eröffnet. Die 39-jährige Lyrikerin entführt in ihrem Romanauszug "Urmünder" ans Ende des 22. Jahrhunderts. Alternierend treffen dabei "laufende Aufzeichnungen der Gärtnerin Habekos" aus dem Jahr 2184 auf Berichte aus dem Jahr 2196.

Im Hauptteil gibt die Ich-Erzählerin Habekos erträumte Geschichten aus 200 Jahren wieder, die zwischen Chimären und Moos angesiedelt sind und von ihrem botanischen Weltrettungsversuch und ihren Bemühungen, mit ihrer sterbenden Freundin ein Kind zu bekommen, handeln. Die Jury zeigte sich in der anschließenden Diskussion schwer gespalten. Während Hildegard Keller bei allem Lob für die Präzision des Textes feststellte, dass hier "intensiv Verwirrung gestiftet" werde, und Nora Gomringer sich "rausgekegelt" fühlte, konterte Klaus Kastberger: "Der Text zeigt etwas, was viele Texte heuer zeigen: Man kann sich daran auch in 14 Tagen oder in drei Wochen noch erinnern. Ich glaube nicht, dass das ein Germanistentext ist. Das ist ein Text, der, glaube ich, auch breit verständlich ist."

Versuch der Differenzierung

Und so versuchte sich die Jury an der Dechiffrierung der zahlreichen Motive des Textes, der 200 Jahre nach George Orwells "1984" angesiedelt ist. Jury-Vorsitzender Hubert Winkels zeigte sich beeindruckt, gab aber zu bedenken, dass der Text zu viele Motive auf engem Raum versammle. Insa Wilke, die die Autorin eingeladen hat, verteidigte ihre Wahl: "Der Text hat mich beeindruckt, weil er etwas tut, was man selten sieht: Er gibt der Imagination Freiheit."

Mit Sarah Wipauer folgte im Anschluss die erste von sechs österreichischen Teilnehmern. In ihrem Text "Raumstation Hirschstetten" unternimmt die Wienerin, die bisher kein Buch veröffentlicht hat, aber auf Twitter und ihrem Blog publiziert, eine Art Familienaufstellung im Weltall. Beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts stellt sie die Mitglieder der Familie von Pirquet vor, die einst in dem Schloss wohnte.

Die Raumstation

Auf einer Raumstation treffen schließlich die Geister des Kinderarztes Clemens von Pirquet, seines Bruders Guido – seinerseits Raketentechniker – sowie zahlreiche Kühe aufeinander. "War es ein Flugzeug oder ein Stall der Zukunft?", heißt es an einer Stelle. Weder noch: Schauplatz ist eine Raumstation 400 Kilometer über der Erde im Jahr 2018.

Zunächst waren sich die Juroren einig, dass es sich bei dem Text stilistisch um das Gegenteil des zuvor Gehörten von Katharina Schultens handelt. Das fanden einige gut, andere nicht. Während der einladende Juror Kastberger die "unterschwellige Art des Erzählens" lobte, mit der "die irrsten Dinge so erzählt werden, als ginge es um Fakten", konterte Michael Wiederstein, dass der Text zu oft den "Erklärbär" mache und man viele Stellen so auch auf Wikipedia finden würde.

"Wenn man einen lyrischen Text haben will, ist das hier nicht so leicht", gab Winkels zu bedenken, während Nora Gomringer den Text "wahnsinnig lustig" und "sprachlich gut aufgelöst" fand. Fazit der Jurorin: "Ein wunderbares Meisterstück." Hildegard Keller lobte allen kritischen Stimmen zum Trotz die "poetische Sprache der Frau Wipauer", während Insa Wilke befürchtete, dass Wipauer nach einem starken Auftakt abdriftet und die Chance auf einen Bestseller vergeben hat.

Kindliche Sprache

Den D-A-CH-Vormittag komplett machte schließlich die Schweizerin Silvia Tschui, die ihren Text "Der Wod" vortrug. Einmal mehr eine Familiengeschichte, die von zahlreichen Rückblenden lebt und durch ihre betont kindliche Sprache ins Auge sticht. Bei einer Familienfeier kommen Erinnerungen an den Krieg hoch, an die verstreute Familie auf der Flucht, jahrelang zementierte Rivalitäten zwischen den Brüdern Hartmut und Emil gipfeln in einem Showdown mit Wiederbelebungsversuch.

Harte Kritik kam von Winkels und Kastberger, die den sprachlichen Umgang mit der Kriegsthematik als nicht adäquat empfanden. "Der Text erinnert an ein Bilderbuch für Kinder, die noch nicht lesen können", so Kastberger. Winkels sah das Problem darin, dass "Der Wod" "weitgehend die historische und soziale Realität ausblendet und sich darauf beschränkt, einen minimalen Ausschnitt aus Kindersicht zu erzählen".

Härte und Abscheu

Nora Gomringer, die den Text ausgewählt hat, setzte zur Verteidigung an: "Der Text erklärt, wie Härte und Abscheu entstehen und wie der Krieg Nebengeschichten entstehen lässt, die tief in Familien eingreifen und Strukturen für immer verändern." Für Michael Wiederstein spricht in dem Text eine Großmutter. Das sei doch etwas, was man sich bei dem Schweigen nach dem Krieg gewünscht hätte – "dass die Großmutter erzählt".

Und so endete mit einiger Verzögerung der erste Lesevormittag. Am Nachmittag geht es weiter mit der Österreicherin Julia Jost und der Schweizerin Andrea Gerster. (APA, 27.6.2019)