Johnny Cash Live In San Quentin ist gerade 50 Jahre alt geworden: Ein Klassiker – von der Verpackung bis zum Inhalt.

Foto: Columbia

Das erste Mal ist er zur Jahreswende 1959 in San Quentin aufgetreten. Das hat bei zumindest einem Insassen dermaßen Eindruck hinterlassen, dass er selbst Sänger werden wollte. Als Merle Haggard in San Quentin einsaß, sah er Johnny Cash auf der Bühne des Hochsicherheitsgefängnisses. San Quentin liegt in der Bay Area nördlich von San Francisco; es ist der älteste Knast Kaliforniens.

Haggard saß wegen Raubes in Bakersfield ein und wurde nach einem Fluchtversuch nach San Quentin verlegt. Nachdem er Cash dort gesehen hatte, wollte er nach seiner Freilassung selbst Musiker werden. Die Geschichte nahm ihren Lauf, Haggard wurde vorzeitig entlassen und einer der größten Stars des Country-Fachs.

"Ich war im Publikum"

Ohne große Wellen jährte sich Anfang Juni das Erscheinen des Albums Live At San Quentin von Johnny Cash zum 50. Mal. Am 4. Juni 1969 war das, und Haggard war in dem Jahr Gast in der damals populären "Johnny Cash Show". Dabei kam es zu diesem Dialog:

Haggard: "Funny you mention that, Johnny."
Cash: "What?"
Haggard: "San Quentin."
Cash: "Why's that?"
Haggard: "The first time I ever saw you perform, it was at San Quentin."
Cash: "I don't remember you being in that show, Merle."
Haggard: "I was in the audience, Johnny."

Ein Jahr zuvor hatte Cash das Album At Folsom Prison aufgenommen. Es wurde ein Hit, der den Titelsong an die Spitze der Country-Charts katapultierte. Cash war zu jener Zeit längst ein Star. Er war ziemlich auf Droge und angetan von der boomenden Gegenkultur, der er in seiner Show eine Bühne bot.

Hobos und Drifter

Ihm war das Sujet Gefängnis und seine Insassen von Beginn an präsent: Folsom Prison Blues war 1955 die Flipside seiner ersten Single für Sun Records in Memphis gewesen. Outlaws, Hobos und Drifter – sie waren oft die Hauptdarsteller in Cashs Songs.

Als er im Jahr darauf wieder in San Quentin auftrat, schnitt der britische TV-Sender Granada den Gig mit. Als das Album erschien, wurde es ein Bestseller, das Cover mit der Silhouette von Cash im Gegenlicht gilt als Klassiker der Popgeschichte, geschossen hat es der bekannte Magazin- und Pop-Fotograf Jim Marshall.

Foto: Columbia

Live At San Quentin ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Dokument: Wie viele Alben kennt man, auf denen dasselbe Lied zweimal hintereinander gespielt wird? Das war Punk, lange bevor es Punk gab.

Berühmter Finger

Auch das berühmte Mittelfingerfoto des Hauptdarstellers entstand während dieses Konzerts. Cash war sauer, weil die TV-Crew die Sicht des Publikums verstellte. Als er das ändern wollte, verlor er plakattauglich die Fassung – der Rest ist Geschichte.

Ein Klassiker der guten Laune: Johnny Cash verliert die Fassung in San Quentin.

Cash begründete mit diesen beiden Knastalben (es folgten '73 und '76 noch zwei weitere) gewissermaßen im Alleingang das Genre Knastplatte. Daneben gibt es ein paar herausragende Arbeiten. Etwa Live at Soledad Prison von John Lee Hooker. Zu Hooker habe ich bis heute ein zwiespältiges Verhältnis, weil mir seine sturen, auf zwei Noten hängenbleibenden Achtminüter zu mühsam sind. Live at Soledad aber ist rough und funky, eher schnell als zäh. Wer es nicht kennt: schwere Empfehlung.

Kurzer Exkurs: Mr. Hooker rockt den Knast von Soledad.
John Lee Hooker - Topic

Eher enttäuschend fand ich immer B. B. Kings Live in Cook County Jail, da würde ich eher Big Mama Thorntons Jail aus 1975 empfehlen, das schiebt an.

Mogelpackung

Toll ist auch Freddy Fenders Recorded Inside Louisiana State Prison aus 1975. Das ist eine von Fenders besten Platten, tolle Songs, bloß ist es eine Mogelpackung: Das Album ist ganz klar ein Studioalbum. Außerdem war Fender zur vermeintlichen Aufnahme noch ein No-Name. Böse, aber gut.

Freddy "Königspudel" Fender am Cover eines tollen Albums. Bloß wurde es nicht, wie es behauptet, im Knast aufgenommen.

Die Sex Pistols haben ein Knastalbum aufgenommen, das ich nicht kenne, vom Country-Sänger Sonny James gibt es eines, das habe ich mal angehört, aber nicht gekauft. Mittlerweile hat das Genre einen Wechsel erfahren: Knastplatte bedeutet heute meist Hip-Hop-Alben, die Rapper hinter Gittern aufgenommen haben.

"I hate every inch of you"

Aber zurück zu Johnny Cash: Der spielte den Song San Quentin zweimal hintereinander. Laut Ansage hatte er das Lied in der Nacht vor seinem Auftritt erst fertiggestellt, wegen des Applauses für Zeilen wie "San Quentin I hate every inch of you" beschloss er, das Lied gleich noch einmal zu spielen.

Johnny Cash singt San Quentin.
ultrarobin

Mit dem obligatorischen "Hello, I'm Johnny Cash" eröffnet er die Show – um dann in Wanted Man einzusteigen, einen Bob-Dylan-Song. Zumindest tut er das auf der ursprünglich veröffentlichten LP. Mittlerweile gibt es einige Versionen des Albums, die das ganze Konzert abbilden – muss man gehört haben. Aber auch in der auf LP gängigen Version gibt es keinen schlechten Song.

Wreck Of The Old 97 – ein Zug fährt durch den Saal.
Grimnirson1432

Das vom Hi-Hat angetriebene Wreck Of The Old 97 ist ein klassischer Train Song, das Cover von Darling Companion lässt die harten Jungs im Saal weich werden, humoristischer Höhepunkt ist das autobiografisch durchwirkte Starkville City Jail, in dem Cash über eine im Knast verbrachte Nacht in einem Kaff singt: funny. Dasselbe gilt für das hier erstmals gespielte A Boy Named Sue – eine verwegene Outlaw-Ballade, die Cashs Verve und Witz auf den Punkt bringt.

"Life ain't easy for a boy named Sue."
Grimnirson1432

Ätzend sind die Pieptöne, mit denen Columbia einige Schimpfwörter in den Songs übertönt hat. Ein Grund mehr, sich eine spätere und das ganze Konzert anbietende Version anzuschaffen.

Bebende Kinnladen

Am meisten kocht der Saal aber bei den beiden Darbietungen von San Quentin. Jede Zeile trifft den Nerv der Gefangenen, suggeriert ein Verständnis, das in deren Alltag sonst keinen Platz findet. Ich habe vor hundert Jahren einmal eine VHS-Kassette des Konzerts besessen, da gibt es Interviews mit Insassen dazu, da beben die Kinnladen.

Mehrere Millionen Mal hat sich das Album verkauft – im umfangreichen Katalog des 2003 gestorbenen Cash markiert es einen Höhepunkt. Fitter mag er im Jahr zuvor gewesen sein, als At Folsom Prison erschienen war, aber atmosphärisch kommt es an Live At San Quentin nicht heran. (Karl Fluch, 25.6.2109)