Zentralfriedhof Annabichl. Nach langer Suche finde ich im hintersten Abteil das Grab. Grauer Stein und weißer Schotter – keine Blumen, nur einige Blätter der umliegenden Bäume zieren die zu einer Wand von Verbrannten gerichtete Ruhestätte. Ich setze mich schräg gegenüber unter eine Weißbirke und nehme eine Zündholzschachtel aus meiner Tasche. Mit der Rückseite eines Bleistifts kratze ich den Aufdruck ab, bis nur noch die rauen Fasern bleiben. Auf den Deckel zeichne ich den Namen vor mir ab: "Ingeborg Bachmann 1926–1973". Bald wird sie länger tot gewesen sein, als sie gelebt hat.

Mario Schlembach

Es ist Sonntag. Nur vereinzelt verschlägt es Menschen hierher. Eine alte Frau bereitet ihr Familiengrab auf den Sommer vor. Sie wirkt in sich verschlossen, als würde sie durch das Wühlen in der Erde in ihre eigene Erinnerungswelt abtauchen; irgendwo an dieser Schwelle zwischen Tod und Leben – einem Raum ohne Zeit, in dem alles miteinander verbunden scheint.

Auf einem Stativ positioniere ich meine handgroße Kamera und zeichne für einige Minuten das Stillleben auf: das Gras, die Äste im Wind und den Vogelgesang. Ich suche nach der perfekten Perspektive, dem optimalen Lichteinfall, um den Effekt des Mystischen zu erzielen. Seit ich am Vortag Klagenfurt erreicht habe, dokumentiere ich jeden Schritt. Die Aufzeichnungen sollen mir später, wenn ich diesen Bericht schreiben werde, als Beweis dienen – denn sobald ich zu dichten beginne, droht das Gewesene sich stets ins Fiktive zu erhöhen. Mit allen Mitteln kämpfe ich dagegen an.

Die Erde darunter ist hart

Aus der Zündholzschachtel schiebe ich die innere Box und gehe langsam hinüber zum Grab. In einer Ecke lege ich die weißen Steine zur Seite und hebe die Plastikfolie an. So weit wie möglich grabe ich mit meinen Händen hinab. Schnell gelange ich durch die weiche Schicht. Die Erde darunter ist hart und voller Gestein. In diesem Boden lösen sich die menschlichen Überreste bereits nach wenigen Jahren auf. Durch die vielen Bäume müssen die Erdbewegungen einer unterirdischen Autobahn gleichen. Vor allem in trockenen Zeiten holen sich die Wurzeln alles, was sie finden können. Aus der tiefsten Stelle entnehme ich etwas Material und lege es mit einer Blüte vom Baum in die Box.

Kein Mohn auf Deinem Grab

- nicht eine Blüte -

nur Bruchstücke

gekünstelter Gesteine.

Wie lang noch,

bis es Zeit ist

heimzufallen?

Nach einem Frühstück im nächstliegenden Café, um die ersten Eindrücke der Reise in mein mit einem Kunstledereinband versehenes Notizbuch zu schreiben, setze ich mich ins Auto und überquere bei Villach die Grenze nach Italien. Ohne größeren Zwischenstopp fahre ich in die Toskana und biege kurz vor Florenz von der Autobahn ab. Zur Übernachtung habe ich vorab eine Unterkunft inmitten von Weinbergen gebucht.

Deutsche Exilanten bewirtschaften einen mittelalterlichen Hof. Ich trage das Gepäck in mein Zimmer und ziehe mich aus. Beim Duschen bemerke ich, dass eine Zecke in meiner linken Oberschenkelinnenseite steckt, die wohl ein Andenken vom Friedhof sein muss. Die kleinen Beine bewegen sich wild, und ich versuche den Parasiten langsam herauszuziehen. Im letzten Ruck bleibt jedoch der Kopf stecken, und zwischen meinen Fingern finde ich nur den zerdrückten Oberkörper. Mit dürftigem Werkzeug operiere ich an mir selbst herum, aber es gelingt mir nicht, den kleinen schwarzen Punkt zu entfernen.

Mit der Metro fahre ich bis zur Station Pyramide und überquere die Straße, um zum Protestantischen Friedhof zu gelangen. Eine wahre Außenseiterruhestätte, wo damals mit Fackelzügen in der Nacht die Begräbnisse abgehalten werden mussten, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen.
Foto: Evalie Wagner

Eine junge Haushälterin gibt mir aus dem Kühlschrank eine Flasche, vom hauseigenen Roséwein und ich setze mich an diesem heißen Frühsommernachmittag zur Terrasse. Die Schönheit dieses Ortes ist atemberaubend. Ich hole die Bachmann aus meiner Hosentasche und lege sie auf die Mauer vor mir. Nicht wegen ihr bin ich nach Italien aufgebrochen, sondern um ein Literaturstipendium in der Nähe Roms anzutreten. Ein Monat in der Einöde, damit ich an einem Roman schreiben kann, in dem ich eine Frau zum Ideal erhebe, aber sie schließlich im Namen der Sehnsucht zum Objekt degradiere. Bei der Konzeption dachte ich oft an die Bachmann. Durch ihre Berühmtheit wurde sie zu einer Projektionsfläche für Fantasien, und vor allem ihre männlichen Kollegen machten sie früh zu einer literarischen Figur.

Intimes wurde preisgegeben, und folglich verlor sie in dieser Aufregung viel von ihrer eigenen schöpferischen Kraft. Stets musste sie um ihre Autorinnenschaft kämpfen und schrieb gegen die Unterdrückung an. Bei meiner Recherche stieß ich auf eine Anmerkung, die ich nicht vergessen konnte: Die Bachmann soll davon geträumt haben, neben John Keats auf dem Cimitero acattolico in Rom begraben zu werden. Stattdessen wurde sie von ihrer Familie zurück nach Klagenfurt gebracht – zurück in ihre Heimat, vor der sie einst geflohen war. Zumindest symbolisch wollte ich daraufhin ihrem letzten Wunsch entsprechen.

Die Bachmann begraben

Abendessen. Eine Flasche Rotwein und Grappa. Ich betrinke mich und muss mich später zu einem Tisch mit Pensionisten aus Norddeutschland setzen, die es wohl nicht ertragen können, dass ich alleine bin. Ein wohlbeleibter Mann mit Schnurrbart spricht über seine Tätigkeit als ehemaliger Bürgermeister, wobei er immer ein offenes Ohr für die Kunst gehabt hätte. Ich nicke und weiß, dass ich sofort wieder alles vergessen werde.

Zu sehr bin ich bereits in den Prozess des Schreibens vertieft, als dass ich etwas Neues aufnehmen könnte. Sie alle hier werden zur Requisite meiner Sprache. Irgendwann bin ich betrunken genug, um erzählen zu können, und breite den Menschen meine Lebensgeschichte aus: Bauernhof, Schreiben, Totengräber – Sturm und Drang. Ich spreche von allem und nichts, nur die Bachmann spare ich bewusst aus. All das ist noch zu nah und aus einem Gefühl heraus geboren, ohne bewerten zu können, ob es richtig oder falsch ist. Es ist eine Eigenschaft, die mir im Leben fehlt und ich nur in der Kunst besitze – ich mache einfach, ohne nachzudenken.

Filmriss. Ich wache in dem viel zu weichen Barockbett auf. Wie spät ist es? Meine Hose liegt am Boden, und ich durchsuche die Taschen. Nichts! Ich laufe hinunter zum Saal. Das Frühstück wird gerade serviert. Die Leute um mich lachen, als wüssten sie etwas über mich, woran ich keine Erinnerung mehr habe. Nirgends entdecke ich die Bachmann, und erst, als ich die etwas erzürnt dreinschauende Haushälterin bitte, ob ich die Mülleimer durchsuchen darf, finde ich sie.

Bei einem Spaziergang ins Hinterland pflücke ich Mohnblumen um sie zu pressen.
Foto: Evalie Wagner

Ich gehe zurück ins Zimmer und atme tief durch. All diese Gesichter und Worte vom Abend können heute genauso gut eine Fiktion sein. Ich dusche mich kalt, um wach zu werden. Die Schwellung rund um den Zeckenbiss ist größer geworden und breitet sich immer weiter aus. Im Internet suche ich nach ähnlichen Bildern und hilfreichen Kommentaren, wobei ich wahlweise zwischen Lächerlichkeit und Tod lande.

Am späten Nachmittag erreiche ich die Casa Litterarum in Paliano. Ich richte mich ein und lege die Bachmann auf das Fensterbrett. Der Mai beginnt mit Aprilwetter, und ich lasse die ersten Tage vorbeiziehen. Jeden Morgen und Abend zwinge ich mich an den Schreibtisch und ringe mir einige Sätze ab. Ich sollte froh sein, dass ich endlich an dem Buch arbeiten kann, wofür ich überhaupt erst zu schreiben begonnen habe, aber da ist – nach Jahren der Manie, es als Schriftsteller unbedingt schaffen zu müssen und Anerkennung zu finden – nichts als Leere und Zweifel.

Aus dem Hades des Unbewussten ziehe ich Sätze, die ich selbst nicht verstehe, und das Brennen ist kaum noch auszuhalten. Die rote Fläche am Oberschenkel reicht jetzt bis zum Knie, während der Farbverlauf den alten Word-Grafiken gleicht, die ich in der Schulzeit für jede Power-Point-Präsentation verwendet habe.

In einem Sekretär liegt ein blaues Telefonbuch aus den Jahren 1964-1965, und ich finde den Namen "Bachmann" darin. Es ist natürlich nicht die Bachmann.
Foto: Mario Schlembach

Bei einem Spaziergang ins Hinterland gehe ich an Ruinen vorbei und gelange zu einem Turm, den ich erklimme. Ich blicke hinüber ins nächstliegende Dorf. Statt der üblichen Kirche thront ein Gefängnis am Gipfel. Die österreichischen Künstler*innen werden ins "Stein" von Italien geschickt, und ich lache laut auf über diese treffende Absurdität von Kulturförderung. Auf dem Rückweg pflücke ich Mohnblumen, die am Wegesrand wachsen. In einem Sekretär liegt ein blaues Telefonbuch aus den Jahren 1964–1965, und ich finde den Namen "Bachmann" darin.

Es ist natürlich nicht die Bachmann, aber ich bin im Gestenrausch und lege auf diese Seite die Blumen, um sie zu pressen. Ein betonierter Kanaldeckel dient mir dabei als Gewicht. Wenn ich die Bachmann schon begrabe, dann richtig, denke ich jetzt und entdecke in der Kinderabteilung des nächstliegenden Supermarkts einen selbsttrocknenden Ton, mit dem ich ihr einen Grabstein bastle. Ich schlage auf die weiße Masse ein und knete sie so lange, bis die Form meiner Vorstellung entspricht. Den Namen der Bachmann ritze ich mit einem Bleistift hinein und verbrenne Verse an sie, um die Asche der Worte über die noch leicht feuchte Konstruktion zu schütten, sodass der Ton nun grau geworden ist.

"Wie Orpheus spiel ich

auf den Saiten des Lebens

den Tod.

...

Aber wie Orpheus weiß ich

auf der Seite des Todes

das Leben."

Diese Passagen aus Bachmanns Gedicht Dunkles zu sagen haben mir ein Jahr zuvor einen Rahmen gegeben, um mich von meinem Todeswahn loszuschreiben. Und in diesen Worten bin ich der Bachmann so nahe gekommen, wie es mir möglich war. Ich spürte eine Verbindung zu etwas Fremdem, das mein Eigenes wurde. Der Zauber der Sprache entfaltete sich darin, und so war dieses Gedicht ein Geschenk, dem ich irgendwann gerecht werden wollte.

Kein Ankommen mehr

Bevor ich die Bachmann nach Rom bringe, begeben wir uns auf eine letzte Reise. Ich nehme die Zündholzschachtel vom Fensterbrett. Erstmals sehe ich Neapel und tauche in diese Hektik und den Puls der Stadt ein. Eine Atmosphäre, als liege der Nerv des Lebens blank: Lärm, Schreie, der Mythos der Welt und die Nichtigkeit des Menschen an einem Ort vereint. Drei Tage, länger halte ich es nach der langen Einsamkeit nicht aus und muss fliehen. Nur auf der Reise und in der Rastlosigkeit fühle ich so etwas wie Heimat. Es gibt – zum Dazwischenmensch geworden – für mich kein Ankommen mehr.

Wir fahren weiter die Küste hinauf. Musik dringt aus dem Radio, und ich höre eine Stimme aus der Ferne zu mir flüstern: "Musik, der erste und höchste Ausdruck, den der Mensch je finden wird. Musik, die ja alles vermag, nicht nur zu trösten, nein, zu retten." Durch Sabaudia, eine während der Zeit des italienischen Faschismus erbaute Retortenstadt, gelangen wir zum Meer. Kilometerlanger Strand und keine Menschen. Die Bachmann und ich schlafen – gehüllt in den Klang und den Hauch der brechenden Wellen – in den Dünen.

Zeit, heimzufallen

Als ich zurück nach Paliano komme, sind die gepressten Mohnblumen violett geworden. Die Schwellung an meinem Bein ist nahezu verschwunden. Nur noch vereinzelt sehe ich rote Flecken. Das Brennen ist geblieben. Jeden Morgen erwache ich mit Übelkeit, aber ich weiß nicht, ob es noch der Zeckenbiss ist oder ob ich den Wein nicht vertrage. Niemanden möchte ich mit meinen Problemen belästigen und wüsste nicht einmal, wie ich mich erklären sollte. Ich lasse es einfach vorbeigehen und ignoriere alles, was mich betrifft, in einer ständig neuen Betäubung. Manchmal, wenn ich nicht trinke, fühlt es sich an, als würde die Welt über mir zusammenbrechen, und ich ertrage die Flut der Wahrnehmungen nicht. "Ich kann nicht schreiben, wenn ich leben muss", lese ich an einem Morgen in meinem Notizbuch, als wären die Worte von einem anderen Menschen verfasst.

Die Zeit ist bald um, und ich packe den Grabstein, die Mohnblumen und die Bachmann in einen Rucksack. Es ist Sonntag. Ich nehme den ersten Zug nach Rom und spaziere vom Termini in Richtung der Spanischen Treppe. In einer kleinen Seitengasse – zwischen Modegeschäften und Bistros – entdecke ich ein Schild mit dem Hinweis, dass die Bachmann hier einmal gewohnt haben soll. Bei uns im Dorf wünschen sich viele Menschen, dass der Leichenzug an ihrem Haus vorbeiführt. Daran denke ich jetzt, auch wenn es sich hier ganz anders verhält.

Weiße Masse: Den Namen ritze ich mit einem Bleistift hinein.
Foto: Mario Schlembach

Ich gehe weiter. Die Luft ist schwül und lässt mich kaum atmen. Menschenmassen tummeln sich auf der Straße und geben der Stadt eine Ruhelosigkeit, die auf mich abfärbt. Nach etlichen Abzweigungen und Umwegen gelange ich zum Markt auf dem Campo de' Fiori, wo ich Granatapfelsaft trinke. Hier sind die wohl berühmtesten Bilder der Bachmann entstanden, darunter auch jenes, das 1954 auf der Titelseite des Spiegels landete.

Mit der Metro fahre ich bis zur Station Pyramide und überquere die Straße, um zum Protestantischen Friedhof zu gelangen. Eine wahre Außenseiterruhestätte, wo damals mit Fackelzügen in der Nacht die Begräbnisse abgehalten werden mussten, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Im ersten, dichtbelegten Teil liegen Goethes Sohn und Percy Shelley. Durch ein Portal komme ich zu einer Wiesenfläche, wo nur noch vereinzelt Gräber stehen. Ich suche den idealen Platz für die Bachmann und warte, bis der Schatten der Pyramide mir einen Hinweis gibt. Kurz nach vier markiert die Spitze einen Punkt hinter dem Grab von Keats. Im Viertelstundentakt werden Touristengruppen zur Ruhestätte des Romantikers geführt, der erst nach seinem Tod großen Ruhm erlangte. In verschiedenen Sprachen höre ich jedes Mal dieselbe Geschichte, die sich auf zwei bis drei Anekdoten stützt, um ein Leben zu erklären.

Ich sitze im Gras. Mit einer Gabel, die ich aus einem Lokal gestohlen habe, beginne ich zu graben. Ein Maulwurf hat die Vorarbeit geleistet. Die Erde ist locker, trotzdem verbiegt sich mein Werkzeug nach wenigen Zentimetern. Aus meiner Tasche hole ich die Bachmann und lege die Zündholzschachtel ins Loch. Wenn Menschen kommen, unterbreche ich mein Vorhaben und tue so, als würde ich schreiben. Habe ich jemals etwas anderes getan? Ich schiebe die Erde ins Loch zurück und stelle den Grabstein der Bachmann zur Kopfseite. Auf den Hügel lege ich den gepressten Mohn und darunter einen Brief mit den Worten.

Mohn auf Deinem Grab

und eine Blüte.

Es ist Zeit, heut

heimzufallen.

Bis die Tore des Friedhofs für die Nacht geschlossen werden, bleibe ich noch etwas sitzen und mache Aufnahmen von der Umgebung. Die Bachmann ist heimgefallen. Ihre Sprache brennt weiter – in uns. (Mario Schlembach, 24.6.2019)