Traumarbeit und entfesselte Fantasie: Xaver Bayer neben Ferdinand Raimund.

Foto: Klaus Pichler

Weißt du was? Stell dir einfach vor, du gehst spazieren und findest ein Gesicht." Mit solchen Sätzen zieht Xaver Bayer seine Leser in den Bann. Und durch die direkte Ansprache zieht er sie zugleich auf seine Seite.

Bayer fordert in seinen 69 Kurzgeschichten Begabung und Lust auf die Fantasie ein. Dabei weiß er eines: "Die Welt geht geradezu über von fantastischen Geschichten." Mit Fantasy und Crime – besonders mit jodelnden Regionalkrimis – fesselt man heute sein Publikum.

Bayer will eine entfesselte Leserschaft, die weiß, wo das zweite Gesicht des Traums zu finden ist. Doch auch hier ist Präzision geboten: "Bisweilen kommt dir vor, dass nicht der nächtliche Schlaf, die sogenannte Traumarbeit, die Auseinandersetzung mit dem Tagesgeschehen ist, sondern die Tätigkeiten des Tages die Aufarbeitung von Geträumten der Vornacht sind."

Ist das der literarische Anti-Freud? Wandelt da der Autor auf den Wegen der Surrealisten, die sich auf Freud berufend den Traum als Teil der Wirklichkeit feierten? Teils, teils. Xaver Bayer ist kein poetischer Psychologe und auch kein surrealer Epigone. Er nimmt die Tradition auf und nimmt sich die Freiheit, etwas ganz Eigenes zu schreiben.

Trödel des Alltags

Freilich, der Surrealistenleader André Breton suchte seine Trouvaille, seine "Fundsache" im Trödel des Alltags – und er träumte sich aus einem schlichten Holzlöffel den zierlichen Schuh Aschenputtels. H._C. Artmann Geschichtensammlung "Grünverschlossene Botschaft" ist eine Entführung in seltsam fremde Traumwelten.

Doch Xaver Bayers Geschichten sind "Fundstücke" aus dem Hier und Jetzt. Die Welt eine "Wildnis", ein "Wildwuchs", die durch Smart- und iPhones, durch Warnlichter und Windräder, durch Supermärkte, Kreditkarten, Kampfsport- und Sexstudios domestiziert wurde zu einem "Wildpark". Dennoch: Wild bleibt wild! Meint, für sich Traumhaftes realisieren. Bei Bayer bedeutet das etwa: Ein alter Geigenkasten sei die "Fundsache", dazu kaufe man sich "das täuschend echte Modell einer Maschinenpistole, Marke Uzi". Dann begebe man sich in die nächstbeste Fußgängerzone, öffne den Geigenkasten, packe die "Uzi" aus und lege darunter den Zettel mit der Aufschrift: "This man will not shoot!" Freilich, einige Passanten lachen, doch bald ist die Polizei zur Stelle und nimmt einen mit aufs Revier. Dort spreche man gelassen von "Kunstaktion" in der Nachfolge von der "sozialen Plastik" des Joseph Beuys. Und siehe: Die Presse erscheint. Du wirst berühmt – "dein Bild auf allen Titelseiten".

Verkommene, schöne Welt

Das ist Tagesarbeit und Aufarbeitung des Geträumten zugleich, eine Tätigkeit, die den tiefen, selbstgerechten Schlaf meidet – denn: "Du musst wach bleiben, auch im Schlummer ein Auge offen haben, denn immer ist irgendwo irgendein Kopfgeldjäger, der sich schon längst auf den Weg gemacht hat." Unsere etwas verkommene, schöne Welt ist ein (alp)traumhafter "Wildpark"!

Xaver Bayer ist aber nicht nur ein exzellenter Erfinder von traumhaften Wacherzählungen. Seine Sprachführung zeugt von hoher Poetizität, die nicht ästhetisierend in vergangener Wortpracht zu Hause ist, sondern im Hier und Jetzt. Dazu kommt noch eine Brise schwarzer Humor, der viele Geschichten ordentlich durchpfeffert. – "Auch aus Alpträumen gibt es ein Erwachen, aber was, wenn der Raum, in dem wir erwachen, dem unserer Alpträume gleicht?" (Andreas Puff-Trojan, 18.6.2019)