Die Wittgenstein-Preisträger 2019: Philipp Ther (links) und Michael Wagner.
Foto: FWF/Novotny

Zum zweiten Mal hintereinander geht der Wittgenstein-Preis an zwei Laureaten, zum zweiten Mal hintereinander wird ein Vertreter der Naturwissenschaften und ein Geisteswissenschafter ausgezeichnet: Der Historiker Philipp Ther und der Mikrobiologe Michael Wagner, beide Universität Wien, erhalten den vom Wissenschaftsfonds FWF ausgeschriebenen und mit je 1,4 Millionen Euro höchstdotierten Wissenschaftspreis Österreichs. Im vergangenen Jahr waren der Mathematiker Herbert Edelsbrunner vom IST Austria und die Musikwissenschafterin Ursula Hemetek von der Universität für Musik und darstellende Kunst erfolgreich.

FWF-Präsident Klement Tockner sieht darin keinen wie immer gearteten Trend. Die Jury unter dem Vorsitz der Kulturwissenschafterin Janet Wolff von der University of Manchester richte sich ausschließlich nach Exzellenz. Infrage kommen für den Wittgenstein-Preis aber nur Wissenschafter und Wissenschafterinnen, die von Vorschlagsberechtigten genannt wurden. Das sind unter anderem die Universitäten und ehemalige Preisträger.

Preisgeld für Forschung nützen

Die Forschungstätigkeit der Kandidaten muss in Österreich stattfinden, ihre Nationalität spielt aber keine Rolle. Laut den Statuten des Wittgenstein-Preises ist das Preisgeld für weitere Forschungsarbeiten zu nutzen. Ein Beispiel: Der Demograf Wolfgang Lutz hat mit den Mitteln das Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital gegründet, eine Forschungskooperation zwischen dem in Laxenburg angesiedelten Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse, dem Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Wirtschaftsuniversität Wien.

Auch darin unterscheidet sich die oft als "Austro-Nobelpreis" titulierte Auszeichnung von ihrem schwedischen Vorbild, das ad personam an meist ältere Persönlichkeiten verliehen wird. Der Nobelpreis selbst ist auch deutlich geringer dotiert: Seit 2017 sind es dort pro Kategorie umgerechnet 878.000 Euro.

Der Wittgenstein-Preis deckt also heuer wieder einmal ein breites wissenschaftliches Spektrum ab. Lebenslauf und Arbeiten der Laureaten könnten unterschiedlicher nicht sein (siehe Interviews): Philipp Ther ist Professor für die Geschichte Ostmitteleuropas und beschäftigt er sich mit dem Wiederaufkommen des Nationalismus nach dem Ende des Kommunismus.

Michael Wagner ist schon seit 2003 Professor für Mikrobielle Ökologie an der Uni Wien. Aktuell beschäftigt er sich vor allem mit einer bestimmten Gruppe von Mikroorganismen, mit Nitrifikanten. Sie tragen dazu bei, dass Dünger nicht von Pflanzen aufgenommen wird, sondern ins Grundwasser gelangt.

Unter den sechs Start-Preisträgern befinden sich fünf Natur- und ein Geisteswissenschafter – und nur eine Frau, die Finanzmathematikerin Christa Cuchiero von der Wirtschaftsuni Wien. Im FWF ist man sich dieser Problematik bewusst und drängt Unis, bessere Arbeitsbedingungen für Forscherinnen zu schaffen. Quoten seien für Start/Wittgenstein allerdings undenkbar. (Peter Illetschko, 17.6.2019)


"Flüchtlingskrise" gab es in Syrien, nicht in Europa

Zwei Fragen an den Wittgenstein-Preisträger Philipp Ther

Der Osteuropa-Historiker Philipp Ther von der Uni Wien will mit dem Wittgenstein-Preis eine Gruppe aufbauen, die sich mit sozialen Transformationsprozessen beschäftigt, mit Entwicklungen, die zu sozialen und regionalen Ungleichheiten in der Gesellschaft führten und daher auf die Gegenwart einwirken. In früheren Arbeiten beschäftigte er sich vor allem mit Osteuropa nach 1989.

STANDARD: Stimmt es, dass Sie einen durchaus persönlichen Zugang zu Ihrem Schwerpunkt Osteuropa nach dem Ende des Kommunismus haben?

Philipp Ther: Meine Forschungsthemen haben schon mit meiner Biografie zu tun, da meine Familie zum Teil aus Böhmen bzw. aus der ehemaligen Tschechoslowakei stammt, 1989 habe ich dort zentrale Momente der Samtenen Revolution miterlebt. Ich wusste, die Welt würde nicht mehr so sein, wie sie einmal war. Ich habe Tschechisch gelernt, später Polnisch und wurde zum Osteuropa-Historiker, wobei ich immer vergleichend im europäischen Kontext gearbeitet habe, teilweise mit der Methode, die Anthropologen als "teilnehmende Beobachtung" bezeichnen.

STANDARD: Ihr jüngstes Buch "Die Außenseiter: Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa", das nach der sogenannten Flüchtlingskrise publiziert wurde, erregte einiges Aufsehen. Sie meinten etwa, dass sich die Aufnahme vieler Flüchtlinge in der Geschichte fast immer gerechnet hat. Wurden Sie dafür kritisiert?

Ther: Dazu stehe ich auch heute noch – im gesamten historischen Kontext betrachtet. Die Linken haben das Buch als zu wenig idealistisch bezeichnet, zumindest klang das durch. Von Rechten gab es im Zusammenhang mit Interviews, die ich dazu gab, etwas, das man in der Postmoderne als Shitstorm bezeichnen könnte. Ich habe dabei auch den Terminus "Flüchtlingskrise" kritisiert, die gab es in Syrien und in den Nachbarländern, nicht in Europa.

Philipp Ther ist Professor und Vorstand am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Zahlreiche Buchveröffentlichungen wie z. B. "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" (Suhrkamp).

"Wir sind von Bakterien gesteuert"

Zwei Fragen an den Wittgenstein-Preisträger Michael Wagner

Der aus München stammende Mikrobiologe Michael Wagner ist seit 16 Jahren in Wien und untersucht Mikroorganismen und ihre Bedeutung für Ökosysteme, Mensch und Tier. Mit den Mitteln des Wittgenstein-Preises will er Geräte anschaffen, um Mikroorganismen in Echtzeit beobachten zu können.

STANDARD: Sie interessieren sich vor allem für Mikroorganismen. Warum?

Michael Wagner: Es gibt unglaublich viele von ihnen. In einem Gramm Blumenerde bei Ihnen zu Hause leben hunderttausend Bakterienarten, es gibt aber nur 10.000 beschriebene. Der Rest in unbekannt, Terra incognita. Man könnte jetzt sagen, wir sind nur Briefmarkensammler und wollen Dinge wissen, die nicht von Bedeutung sind. Das ist aber ein großer Irrtum. Alle Systeme funktionieren nur durch diese Mikroorganismen, wir sind von bakteriellen Lebensgemeinschaften gesteuert. Wir entwickeln Methoden, um Bakterien beim Fressen zuzusehen, um sie besser zu verstehen. Das ist natürlich reine Grundlagenforschung, da hängt mein Herz dran, man kann aber bei bestimmten Umweltproblemen Lösungsansätze aufzeigen.

STANDARD: Welche Probleme meinen Sie?

Wagner: Die Hälfte der Bevölkerung wird ernährt, weil man Stickstoffdünger einsetzt, der wird aber nur zu einem Bruchteil von den Pflanzen aufgenommen. Bestimmte Mikroorganismen, sogenannte Nitrifikanten, sind dafür verantwortlich. Der Dünger wird ausgewaschen, gelangt ins Wasser, Todeszonen in Ozeanen entstehen. Man könnte das verhindern, indem man effizienter düngt und bessere Kläranlagen baut. Als Nebenprodukt entsteht außerdem Lachgas, ein nicht zu unterschätzendes Treibhausgas. Es ist auch das wichtigste Ozon-zerstörende Gas derzeit. Es gibt aber Nitrifikanten, die wir entdeckt haben, die weit weniger Lachgas produzieren. Man kann sich fragen, ob man den Stickstoff-Kreislauf positiv manipulieren könnte.

Michael Wagner leitet das 2019 neu gegründete Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemforschung. Anfang des Jahrzehnts erhielt er für seine Forschungen auch einen Advanced Grant des ERC.