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Täglich besuchen hunderte Menschen das Haus, in dem sich Anne Frank vor den Nazis versteckt hielt.

Foto: AP Photo/Peter Dejong

In Amsterdam ist sie schon einmal gewesen, aber das Anne-Frank-Haus an der Prinzengracht hat die 26 Jahre alte Studentin aus Indien gerade zum ersten Mal besucht. Auch sie verlässt es nicht, ohne sich vorher in das Gästebuch einzutragen, das aufgeschlagen am Ausgang für die Besucher bereitliegt: "Ich habe mich dafür bedankt, dass dieser Ort als Museum besucht werden kann", erzählt die Frau. "So etwas darf nie wieder passieren. Ich fand es unheimlich, in Annes Versteck zu sein."

Es ist gegen vier Uhr nachmittags. Erst um 22 Uhr wird das Museum schließen – aber schon jetzt haben die Besucher an diesem Tag im Gästebuch mehr als fünfzehn Seiten vollgeschrieben. "Der Besuch im dunklen Versteck wühlt die Menschen auf", sagt Museumsmitarbeiterin Anne marie Bekker. "Sie wollen ausdrücken, wie dankbar sie sind, in Freiheit leben zu dürfen. Und wie wichtig es ist, Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen."

Symbol der Hoffnung

Es sind vor allem junge Leute: Schüler, Studenten, Rucksacktouristen. Insgesamt zieht es jährlich 1,2 Millionen Menschen in das Hinterhaus, in dem Anne Frank ihr berühmtes Tagebuch schrieb. Am 12. Juni wäre sie 90 Jahre alt geworden. Das jüdische Mädchen aus Frankfurt gilt als bekanntestes Opfer des Holocausts und als Symbol der Hoffnung. "Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar", schreibt sie am 15. Juli 1944 in ihr Tagebuch. Knapp drei Wochen bevor die Untergetauchten verraten und entdeckt werden: "Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube."

Im Museum herrscht andächtige Stille. Die Menschen lauschen der Stimme in ihren Kopfhörern. Die erzählt ihnen, dass Anne vier Jahre alt war, als ihre Familie 1933 von Frankfurt nach Amsterdam zog. Sieben Jahre später – als deutsche Truppen die Niederlande besetzen – holt der Naziterror sie ein: Juden dürfen nicht mehr in Bäder und an Strände. Kinder müssen auf jüdische Schulen gehen, 1942 folgt eine nächtliche Ausgangssperre.

Geschenk zum 13. Geburtstag

"Wir haben das Beste daraus gemacht", erinnert sich Annes beste Freundin, die heute 90-jährige Jacqueline van Maarsen. Sie hat den Holocaust überlebt. An Annes 90. Geburtstag sprach sie mit jungen Menschen über Freiheit und darüber, wie man Vorurteile bekämpft. "Wir haben damals viel gelesen. Weil wir nicht ins Kino durften, hat Annes Vater Heimfilmvorstellungen für uns organisiert." Jacqueline war auch dabei, als Anne 1942 ihren 13. Geburtstag feierte, den letzten in Freiheit: "Damals bekam sie das rotkarierte Tagebuch geschenkt." Als die Familie rund drei Wochen später untertaucht, nimmt Anne es mit.

Vater Otto hat das Versteck Monate zuvor vorbereitet: im Hinterhaus seiner Firma an der Prinzengracht. Die Verbindungstür ist als Bücherregal getarnt. Dahinter führt eine steile Treppe nach oben in eine kleine Wohnung. 25 Monate lang lebte Anne hier mit ihren Eltern, ihrer Schwester und vier weiteren Untergetauchten. Zusammengepfercht auf 50 Quadratmeter, ohne frische Luft, ohne Tageslicht. Immer auf der Hut und voller Angst, dass die WC-Spülung oder auch schon ein Husten sie verraten könnten. "Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch aufhören", notiert sie am 11. April 1944. "Einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht allein Juden sein."

Sand auf dem Boden

Die Besichtigung führt auch durch die Büroräume im Hauptgebäude, wo die vier Angestellten von Otto Frank ihr Leben aufs Spiel setzten, um die Untergetauchten mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Und durch die Lagerräume, in die sich Anne am Wochenende und abends nach Geschäftsschluss wagte, auf der Suche nach ein bisschen Freiheit. Dort entdeckte sie die Fallen, die ein misstrauisch gewordener Lagerarbeiter den Untergetauchten stellte: Er streute Sand auf den Boden, in der Hoffnung, darin Fußspuren zu entdecken.

"Schockierend", sagt eine Schülerin aus London, die mit drei Freundinnen die Treppe herunterkommt. "Wie lange waren wir gerade da oben im Hinterhaus? Fünf oder zehn Minuten. Anne hat da zwei Jahre verbracht und musste die ganze Zeit still sein."

Am 4. August 1944 erhält die deutsche Polizei einen anonymen Anruf. Wer die Untergetauchten verraten hat, konnte nie geklärt werden. Über das Durchgangslager Westerbork landet Anne in Auschwitz und dann in Bergen-Belsen, wo sie im März 1945 völlig ausgemergelt an Typhus stirbt. Ihr Vater Otto kehrt als einziger Überlebender der Familie zurück. Eine ehemalige Angestellte überreicht ihm die Tagebücher, die Anne im Versteck zurückgelassen hat. "Ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen", schrieb sie darin am 5. April 1944. "Ich will fortleben, auch nach meinem Tod." (Kerstin Schweighöfer, 12.6.2019)