Überlebende in Sobane Da habe Gräber für die Ermordeten ausgehoben.

Foto: AFP/STRINGER

Malis Präsident Ibrahim Boubacar Keïta nimmt sich kein Blatt mehr vor den Mund. Das Überleben seiner Heimat stehe auf dem Spiel, sagte der Präsident des westafrikanischen Staates während eines Besuchs in Genf: Mali drohe von einer Spirale der Gewalt in den Abgrund gestürzt zu werden.

Soeben hat der 74-jährige Staatschef von einem neuen Massaker in seiner Heimat erfahren: Angehörige des Fulani-Volkes hatten in der Nacht auf Montag ein Dorf der Dogon im Zentrum des Landes überfallen und mindestens 95 Menschen – darunter Kinder und Frauen – getötet. Rund 50 schwerbewaffnete Männer seien in den frühen Morgenstunden auf Motorrädern und Pick-ups angebraust und hätten das Dorf Sobame Da umstellt, berichtete ein Augenzeuge der AFP: Sie hätten auf alles, was sich bewegte, geschossen und anschließend die Behausungen angezündet. Viele Opfer seien bei lebendigem Leib in ihren Hütten verbrannt.

Zwei Massaker in drei Monaten

Das Massaker ist bereits das zweite in der Region in weniger als drei Monaten: Ende März hatten Männer das ebenfalls östlich von Mopti gelegene Dorf Ogossagou überfallen und mehr als 150 Menschen niedergemetzelt. Damals waren Fulani die Opfer und die Täter Dogon. Selbst dieses Blutbad, das zum Rücktritt der gesamten Regierung führte, war nicht das erste des Jahres: Schon am 1. Jänner war das Dorf Koulogon, ebenfalls im östlichen Zentrum des Landes, überfallen worden, 39 Menschen wurden dabei getötet. Auch in diesem Fall waren die Toten Fulani, die Angreifer Dogon.

UN-Blauhelme zählten allein in diesem Jahr 92 Zwischenfälle, die den Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zuzuschreiben seien. Innerhalb der vergangenen drei Jahre kamen nach Angaben der örtlichen Nichtregierungsorganisation Acled mehr als 2.700 Menschen ums Leben.

Vom Vorzeigestaat zum Tummelplatz von Extremisten

Mahamat Saleh Annadif, Sonderbeauftragter der UN für Mali, spricht von einem "nationalen Notstand": Die "Grenze des Erträglichen" sei längst überschritten. Die Konflikte zwischen den Fulani-Viehhütern und den Ackerbau treibenden Dogon überschatten Mali schon seit vielen Jahrzehnten. Doch die Brutalität, mit der sie ausgetragen werden, ist neu. Beobachter machen dafür sowohl den Klimawandel als auch die Verfügbarkeit automatischer Waffen, die Schwäche des angeschlagenen Staates sowie die Umtriebe islamistischer Extremisten verantwortlichen: ein Cocktail, der Mali tatsächlich – wie von Präsident Keïta befürchtet – wieder einmal in den Abgrund stürzen könnte.

Der einstige afrikanische Vorzeigestaat war vor sieben Jahren schon einmal zum Tummelplatz extremistischer Islamisten geworden: ein Schicksal, das die gegenwärtig im Land stationierten 14.000 Blauhelme, darunter mehr als 1.000 deutsche Bundeswehrsoldaten, eigentlich verhindern sollten.

Klimaerwärmung facht Konflikte an

Beim Streit zwischen den Dogon und Fulani ging es ursprünglich vor allem um Ressourcen. Durch die Ausbreitung der Sahelzone wurden die Fulani-Viehzüchter immer weiter gen Süden gedrängt – ein Trend, der durch die Klimaerwärmung noch beschleunigt wird. Nach der Desintegration Libyens kommt noch die Verfügbarkeit automatischer Schnellfeuergewehre hinzu: Statt einander wie bisher mit Macheten oder alten Jagdflinten zu bekämpfen, mähen Angreifer mit ihren Kalaschnikows inzwischen ganze Dorfgemeinschaften nieder.

Auch die Präsenz von mindestens vier Terrororganisationen auf malischem Boden ließ den Konflikt eskalieren: Die Islamisten nützen die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen aus, um neue Kämpfer zu rekrutieren und die Staatsorgane zu schwächen. Letztere sollten nach der Befreiung des Landes durch eine französische Interventionstruppe eigentlich wieder gestärkt werden. Doch trotz des Trainings malischer Soldaten – unter anderem durch 180 Bundeswehrsoldaten – ist die Armee noch immer nicht in der Lage, weite Teile des Staatsgebiets unter ihre Kontrolle zu bringen.

Stattdessen führt die zunehmende Militarisierung der malischen Konflikte zu immer blutigeren Zusammenstößen. Ein Ende der in den Abgrund führenden Gewaltspirale ist deshalb nicht abzusehen. (Johannes Dieterich, 12.6.2019)