Kunst muss Gewalt darstellen, um die Gesellschaft zur Umkehr zu bewegen, meint Gottfried Helnwein.

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Vom weltweit bekanntgewordenen Ibiza-Video war er als Auslandsösterreicher nicht überrascht. Korruption und Machtmissbrauch prangert der in Irland und den USA lebende Künstler Gottfried Helnwein seit vielen Jahren an. Politisch versteht er sich als Linker in der Tradition von 1968. Was ihn stört, ist die Macht der US-Konzerne, aber auch überbordende Political Correctness liberaler Eliten. Beim kommenden Wiener Impulstanz-Festival (11. Juli bis 11. August) wird Helnwein Shakespeares "Macbeth" eine neue Form geben. Bei einem Wien-Besuch am Rande des Klimagipfels nahm er sich Zeit für ein Gespräch.

STANDARD: Sie scheinen in Österreich wieder vermehrt präsent zu sein. Können Sie mit dem Begriff Heimat etwas anfangen?

Helnwein: Mehr denn je. Ich bemerke gerade in der heutigen Globalisierung eine Auflösung des Heimatbegriffes, er bekommt immer so etwas Rechtsradikales. Ich bin aber der Meinung, dass Heimat für Menschen wichtig ist, losgelöst von jeder Ideologie. Ich glaube, dass jeder Mensch in eine kulturelle Tradition eingebunden sein sollte. In eine Kultur, die über viele Generationen in Jahrtausenden entstanden ist und in den verschiedensten Formen überall auf der Welt existiert.

STANDARD: Wenn Sie sich in den USA aufhalten: Fühlen Sie sich dann stärker denn je als Europäer?

Helnwein: Die USA sind ein faszinierendes Land mit einer durchaus eigenständigen Kultur. Aber ich merke gerade dort, wie sehr ich Europäer bin. Womit ich aber ein Problem habe, ist, dass Europa mehr und mehr mit der EU gleichgesetzt wird. Jede Kritik an der EU wird als antieuropäisch ausgelegt. Es wird ständig so getan, als hätte die EU Europa erfunden, als würde das Ende der EU auch das Ende Europas bedeuten. Wenn ich Europa sage, meine ich die kulturellen und geistigen Werte einer gemeinsamen jahrtausendealten Geschichte, die uns zutiefst geprägt haben und verbinden – nicht dieses "Konstrukt aus Schuldnern und Bankern", wie Vranitzky die EU einmal genannt hat.

STANDARD: Was ist für Sie das Gemeinsame in Europa?

Helnwein: Der kulturelle Höhepunkt der Menschheit hat nach meinem Verständnis in Europa stattgefunden, und zwar in der Zeitspanne von der Gotik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Es war eine Explosion an Kreativität wie niemals zuvor irgendwo auf der Welt: in der Baukunst, der Musik, der Malerei, der Literatur und der Philosophie. Es ist das große Wunder der Menschheitsgeschichte. Für mich ist das aber auch mit Wehmut verbunden, weil es gerade zugrunde geht. Wir treten in ein völlig neues Zeitalter ein.

STANDARD: Welches Zeitalter meinen Sie?

Helnwein: Das New Digital Age, das Zeitalter der neuen Technologien, die alles vernetzen, überwachen und kontrollierbar machen. Sie ermöglichen ja erst die sogenannte Globalisierung, die möglicherweise alle ästhetischen und geistigen Werte nivellieren und die Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Eigenständigkeit verschiedener Kulturen auslöschen wird.

STANDARD: Woher kommt Ihr Kulturpessimismus?

Helnwein: Na ja, ich bin ja schon einige Zeit hier, und ich habe mich immer umgesehen und aufgepasst.

STANDARD: Sie selbst sind erst seit den 1970er-Jahren künstlerisch tätig. Ging es damals schon bergab mit dieser Kultur?

Helnwein: Ich glaube, der kulturelle Niedergang hat schon in diesem kollektiven Wahnsinn der Weltkriege und Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen.

STANDARD: Beim Impulstanz-Festival gestalten Sie das Bühnenbild zu einer Wiederaufnahme des "Macbeth" von Johann Kresnik aus dem Jahr 1988. Aktueller denn je?

Helnwein: Shakespeares "Macbeth" ist zeitlos, eine brillante Analyse von Korruption und Macht und heute genauso aktuell wie vor 500 Jahren. In der Inszenierung von Kresnik 1988 haben wir auf die Parallelen zur damaligen Barschel-Affäre hingewiesen. Auch da haben im Kampf um Einfluss und Macht geheimdienstähnliche Methoden eine Rolle gespielt, so wie heute 2019 in Ibiza.

STANDARD: Wie denken Sie über das Ibiza-Video?

Helnwein: Es war wieder einer dieser Momente, wo Österreich weltweit in den Schlagzeilen war. Ich müsste mich zwar wirklich anstrengen, erstaunt darüber zu sein, dass der Strache zu Machtmissbrauch und Korruption fähig ist; aber die Rundumschlag-Performance, die diese beiden Einfaltspinsel in dieser Schmierenkomödie hingelegt haben, war tatsächlich bemerkenswert.

STANDARD: Die FPÖ strickt bei Ibiza-Gate bereits an einer Opferthese. Sie haben sich in den 1980ern künstlerisch mit Kurt Waldheim auseinandergesetzt, der die Enthüllung seiner NS-Vergangenheit bekämpfte und bis zuletzt leugnete. Er wurde trotzdem gewählt, auch die FPÖ wird wohl weiter Wahlen gewinnen. Warum?

Helnwein: Ich glaube, das ist spezifisch österreichisch, vielleicht die Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. In unserer kollektiven Erinnerung hat die Monarchie, als wir der Mittelpunkt der Welt waren, immer noch einen festen Platz. Dieses kleine Land mag militärisch und wirtschaftlich keine große Bedeutung mehr haben, aber kulturell ist es ja tatsächlich noch eine Großmacht. Auf jeden Fall reagieren die Österreicher immer sperrig, widerspenstig und irrational, wenn sie das Gefühl haben, man wolle sich gegen sie verschwören und von außen Druck auf sie ausüben. Das hat schon im Fall Waldheim nicht funktioniert.

STANDARD: Sie arbeiten beim Bühnenbild mit harten Kontrasten, Uniformen, Blut. Gibt es eine Ästhetik der Gewalt, die Menschen von Natur aus anzieht?

Helnwein: Ästhetik ist im Grunde wertfrei, aber die Nazis haben ja gezeigt, dass man sie für destruktive Zwecke missbrauchen kann. Die schneidigen SS-Uniformen wurden übrigens von der Firma Boss hergestellt.

Szene aus jenem "Macbeth", für den Helnwein Kostüme und Bühnenbild gestaltet hat.
Foto: Gottfried Helnwein

STANDARD: Bedient der Konsum von Gewaltdarstellungen einen Freud'schen Todestrieb?

Helnwein: Ich denke, es gibt zwei Richtungen, in die man gehen kann: kreativ für das Leben oder destruktiv gegen das Leben. Sollte es diesen Freud'schen Todestrieb wirklich geben, wäre es ethisch unentschuldbar, sich ihm zu unterwerfen.

STANDARD: Ihre Kunst war nie destruktiv? Es ging nie darum, Gelüste zu bedienen?

Helnwein: Niemals. Im Gegenteil. Ich glaube, dass es manchmal die Aufgabe des Künstler sein kann, auch die Dinge anzusprechen und sichtbar zu machen, die die Menschen lieber vergessen und verdrängen würden. Ich sehe mich in der Tradition zu Künstlern wie Francisco de Goya mit seinen "Desastres de la Guerra", der wahrscheinlich auch an die kathartische Kraft der Kunst geglaubt hat.

STANDARD: Wie verhält es sich mit Gewalt im Entertainment? Mit Ihrem Freund Marilyn Manson oder Rammstein, für die Sie Plattencover gestaltet haben?

Helnwein: Die faschistoide Ästhetik hat tatsächlich Spuren in der späteren Rockmusik hinterlassen. Es hat vielleicht auch mit der Kontrolle und Euphorisierung eines Massenpublikums zu tun. Manson ist poetisch und hochintelligent, aber vollkommen unpolitisch. Seine Anti-Ästhetik hat mehr mit Anarchie und einer Attacke auf das puritanisch-amerikanische Spießertum zu tun und gehört eher in die Kategorie Halloween und Horrorfilm. Bei Rammstein ist das ähnlich. Die gesamte Black-Goth-Bewegung hat den Jungen ein Ventil gegeben, sich aus der erdrückenden Welt ihrer Eltern zu befreien und anders zu sein. Wenn Kunst Gewalt aufgreift, dann nimmt sie ihr in der Regel die Gefährlichkeit, das Böse, das Toxische.

STANDARD: Wenn Gewalt für die Kunst tabu wäre ...

Helnwein: ... wäre das gefährlich. Kunst ist das einzige wichtige Korrektiv in einer Gesellschaft, damit sie nicht erstarrt und wahnsinnig wird. Nur die Freiheit der Kunst garantiert eine freie Gesellschaft. Die Geschichte hat uns oft genug gezeigt, wohin ihre Unterdrückung und Eliminierung führen.

STANDARD: Sie haben zuletzt häufig Political Correctness kritisiert. Was stört Sie daran?

Helnwein: Die Dominanz der USA basiert ja nicht nur auf ihrer militärischen Übermacht, sondern vor allem auf der propagandistischen Überlegenheit ihres weltweiten Nachrichtenmonopols. Von daher kommt auch diese sogenannte Political Correctness. Sie ist ein raffinierter propagandistischer Trick, der alles aushebelt und ersetzt: Ethik, Moral, Rechtsstaatlichkeit.

STANDARD: PC hat aber unterdrückten Gruppen zu ihrem Recht verholfen. Oder sollen Schwarze weiter das N-Wort dulden müssen?

Helnwein: Es war die Civil Rights Movement der 50er- und 60er-Jahre, die den unterdrückten Schwarzen zu ihrem Recht verholfen hat. Jetzt im Nachhinein ständig neue Worte zu erfinden, nur damit sich irgendwelche Wichtigtuer besser fühlen, hilft niemandem. In ihrem Säuberungswahn wollten PC-Aktivisten sogar die Werke Mark Twains aus den Bibliotheken verbannen. Man kann jetzt ganz einfach per Social Media Leute sozial vernichten, nur weil einer sich unglücklich ausgedrückt oder ein Wort verwendet hat, das gerade auf dem Index steht. Es geht nur noch darum, wie man etwas sagt, nicht mehr darum, was man sagt. Daher die inflationäre Verwendung von Begriffen wie Nazi oder Rassist. Es gäbe ja eine Menge Gründe dafür, Trump zu kritisieren, aber das Vokabular der neuen Linken ist so ärmlich, dass ihnen zu Trump nichts anderes einfällt. Deshalb stört ihn ja die Kritik nicht, weil sie so stumpf und unspezifisch ist.

STANDARD: Es gibt Hinweise auf Rassismus bei Trump, er hat sich zum Beispiel geweigert, Immobilien an Schwarze zu vermieten.

Helnwein: Kann sein, davon weiß ich nichts. Ich habe den Eindruck, dass Trump in erster Linie der größte Dealmaker aller Zeiten sein will. Deswegen will er auch in Wahrheit keinen Krieg. Nicht aus ethischen Gründen, sondern weil es sein Verständnis von Business stört. Er kommt nicht aus der Ölindustrie oder dem Military-Industrial-Komplex, wo Kriege nützlich wären, sondern er denkt an Kasinos und Hotels. Die würde er gerne auch in Nordkorea bauen. Trump ist, so seltsam es klingen mag, ein Antikriegspräsident – wenn auch möglicherweise aus den falschen Gründen.

Helnwein vor einem seiner charakteristischen Bilder bandagierter Kinder.
Foto: Rafael Y. Herman

STANDARD: Wie sehen Sie die Liberalen in den USA?

Helnwein: In den USA haben wir heute praktisch eine Diktatur der Konzerne, deren Macht und Einfluss dank der neuen Technologien bis in den hintersten Winkel des Planeten reicht. Nun hat diese Elite der Milliardäre und Monopolisten wie Bezos, Gates, Zuckerberg und Buffett auch noch die Demokratische Partei beschlagnahmt und sich selbst zur neuen Linken, oder Liberals, wie sie hier heißen, ernannt. Das könnte erklären, warum die gute alte Kapitalismuskritik durch Political Correctness ersetzt wurde.

STANDARD: Ist PC der Grund, warum die Linke keine überzeugenden Antworten auf die Migrationsthematik findet?

Helnwein: Ja, weil im Zeitalter der PC freie Meinungsäußerungen zu diesem Thema suspekt und gefährlich sind. Es gibt nur ein sozial und medial akzeptiertes Glaubensbekenntnis: das der Gutmenschen, die für eine unbegrenzte Migration nach Europa stehen. Na ja, dann gibt es natürlich noch die Alternative: Man kann auf damit verbundene Probleme hinweisen und ist ein Nazi. Mehr Möglichkeiten scheint es nicht zu geben. Daher haben sich die Linken, aber auch alle anderen bürgerlichen Parteien geweigert, die Ängste der Menschen auch nur wahrzunehmen. Man hat sich aus der Verantwortung gestohlen und die gesamte Migrationsdebatte den Rechtspopulisten überlassen.

STANDARD: Wie sollte die Linke es ansprechen?

Helnwein: Sahra Wagenknecht war, soweit ich weiß, die einzige Linke, die es gewagt hat, diese Thematik anzusprechen, worauf ihr natürlich alles um die Ohren flog. Dabei ist die Massenmigration ja nur der zweite Teil des Problems. Der erste Teil, der eigentliche Grund für diese Völkerwanderung, wird aus der Debatte völlig herausgehalten: die gnadenlose Vernichtungs- und Plünderungspolitik des angloamerikanischen Imperiums und von dessen Verbündeten, deren Sanktionen und Massenbombardements große Teile des Mittleren Ostens und anderer Teile der sogenannten Dritten Welt unbewohnbar gemacht haben.

STANDARD: Sie haben am jüngsten Klimagipfel in Österreich teilgenommen. Können Sie in Klimaschutzfragen noch optimistisch sein?

Helnwein: Die Bemühungen, den CO2-Ausstoß radikal zu reduzieren, sind wichtig, aber wir müssen endlich auch alle anderen Aspekte der Zerstörung unseres Planeten miteinbeziehen. Es werden weiterhin immer mehr Atomkraftwerke gebaut, jährlich werden Millionen Hektar Tropenwald vernichtet, 2050 wird es mehr Plastik im Meer geben als Fische. Ich glaube, dass man das Thema Klimawandel nicht isoliert von der Macht und dem Einfluss der turbokapitalistischen Konzerne wirksam angehen kann. Die weltweiten Rüstungsausgaben betragen nun bereits jährlich mehr als 1,7 Billionen. Wenn wir aufhören würden, diese gigantischen Mittel und unsere Intelligenz für immer destruktivere Zwecke einzusetzen und uns mit dem gleichen Einsatz um unsere Umwelt kümmern würden, hätten wir eine realistische Chance, alles umzudrehen. (Stefan Weiss, 5.6.2019)