Bild nicht mehr verfügbar.

Elton John (Taron Egerton) genießt während der 1970er-Jahre im Privatjet die heitere Stimmung, die entsteht, wenn man im Raum einen kalten Truthahn herumhüpfen sieht.

Foto: AP

Frei nach Karl Marx: Geschichte findet immer zwei Mal statt, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Musical. In beiden Fällen bleiben die grundlegenden Voraussetzungen eines Heldenepos aber gleich, von Odysseus herauf über Star Wars bis zu Super-/Batman und den Avengers. Kein Film, der an den Kassen funktionieren soll, kommt ohne das bestens bewährte und in die DNA des Publikums eingebrannte Schema aus:

Es beginnt damit, dasss das Leben des Helden, nennen wir ihn Reginald Dwight, während der 1950er- und 1960er-Jahre langweilig, öd und aufgrund der häuslichen Umstände in der grauen Londoner Vorstadt ziemlich deprimierend ist. Aber der Bub ist musikalisch hochbegabt, klopft auf dem Klavier herum und entdeckt die Heilsbotschaft des Rock‘n‘Roll. It will save his soul. Er wird ihn hier rausholen!

Paramount Pictures

Bevor man aber jemand anders werden kann – das ist eine durchaus auch traurige Botschaft des nun in den Kinos startenden Biopics Rocketman, der das Leben von Elton John umkreist – muss man erst einmal das alte Ich töten; und trotzdem nicht an den Drogen sterben. Verbrannte Erde. Tabula rasa.

Der kleine, begabte, dickliche, homosexuelle Musiker Reginald Dwight wurde nach Jahren als Tingeltangelmusiker in kleinen Clubs in der britischen Provinz schließlich von einem ebenso brutalen wie schillernden Paradiesvogel namens Elton John erschlagen. Der stieg dann mit Liedern wie Your Song oder Goodbye Yellow Brick Road oder Crocodile Rock bald zu Weltruhm auf. Leider wurde Elton John deswegen aber auch zum gefräßigen, nimmersatten Monster.

CastOfRocketmanVEVO

Das auf der Bühne in viktorianischen Frauenkleidern, Gockelkostümen oder dem Outfit eines in eine Badewanne Glitzersteine gefallenen Engels mit Teufelshörnern steckende Monster ernährte sich von Wodka, Schmerzhämmern, Koks, Speed und Amokläufen in Luxusboutiquen – und er fickte nach eigenen Angaben alles, was sich bewegte.

Sein relativ spätes Coming-out verlief nicht besonders glücklich, irgendwann war Elton John sogar mit einer Frau verheiratet. Die getrennten Eltern, gefühlskalt bis zum bitteren Ende. Parallel dazu musste Elton John dank seines Gespürs für catchy Melodien, zu denen Partner Bernie Taupin die Texte beisteuerte, eine Weltkarriere absolvieren, die neben zwei, drei Fließbandalben pro Jahr nicht enden wollende Tourneen vorsahen.

Heimkehr des Helden

In Rocketman wird all das ebenso klischeehaft-authentisch wie für Pop notwendigerweise überlebensgroß durchdekliniert. Der Ruf des Abenteuers, die Reise, der Aufstieg, die falschen Freunde, die Versuchung, die Bitches, die Anwälte, die Orgien, Liebesentzug, Turkeys über dem Atlantik. Der tiefe Fall. Ende? Nein! Die Läuterung! Da, im Tunnel, das Licht! Schließlich kehrt der angeschlagene Held mit dem Kopf des Feindes oder irgendeinem Goldschatz in die Heimat zurück, und – ja, warum denn nicht?! – im Abspann läuft ein tapferes Lied mit eingängigem Refrain, zum Beispiel I‘m Still Standing.

Elton John setzt sich mit dem opulenten Kinomusical Rocketman ein Denkmal zu Lebzeiten. Unter der Regie Dexter Fletchers, der im Vorjahr schon das biedere und jugendfrei glättende Queen-Biopic Bohemian Rhapsody Oscar-reif finalisierte, jagt Taron Egerton als Elton John, in dutzenden Kostümen überzeugend die großen alten Hits singend, aber definitiv besser tanzend, nicht nur biografischen Stationen eines der großen Popstars der 1970er hinterher; eines Stars, der zirka 1981 den Absprung gerade noch geschafft hat und also noch am Leben ist.

Popcornkübeltest bestanden

Freunde des mit druckvollem Bariton vorgetragenen, gepflegten Evergreens für das Popradio, das auch im Büro nicht stört, werden sich auch an den atemberaubenden Choreografien begeistern. Zu den beeindruckendsten zählt eine mehrminütige Sequenz, in der Elton John im Swimming Pool beinahe ertrinkt, um dann singend und tanzend in der Notaufnahme reanimiert zu werden. Gleich darauf während des Titelsongs Rocketman wird er, zurück im Dienst, von der Bühne Richtung Weltraum gefeuert zu werden.

Alles gut mit den Popcornkübeln also? Wer Musicals nicht aushält, wird das nur schwer ertragen. Die Szene mit der crazy vertanzten Fetischorgie flutscht übrigens gar nicht. (Christian Schachinger, 29.5.2019)