Nebelig. Das ist das Erste, was Roland Biczó einfällt, spricht man ihn auf seine erste Zeit in Österreich an. Lange hat es gedauert, bis der damals 22-Jährige wusste, was das Wort bedeutet, damals, als er mit seinem Schuldeutsch und dem Willen nach Österreich kam, hier zu arbeiten. Biczó, schlank, jugendlicher Haarschnitt, hat an diesem verregneten Nachmittag an der Zustellbasis der Post in Oberwart keinen Stress. Anders als tagsüber. Da fährt der heute 39-Jährige für seinen Arbeitgeber Pakete aus. Über 300-mal am Tag springt er aus seinem Kleinbus und übergibt Briefe und Pakete an die Kunden. Eine würdige Visitenkarte für seinen Arbeitgeber: freundlich, zuvorkommend – und er spricht ausgezeichnet Deutsch.

Roland Biczó erinnert sich noch genau an jene Zeit, als er 22-jährig nach Österreich kam. Er hatte Deutsch in der Schule gelernt. Mit der gesprochenen Sprache hatte das wenig zu tun.
Heribert Corn

Ordentliche Sprachkenntnisse gehören dazu. Auch für einen Ungarn in Österreich. Die Post will sich damit abheben von der Konkurrenz. Ungarische Kollegen gibt es einige. Im Burgenland ist Biczó einer von vielen. Seit der Öffnung des Arbeitsmarktes sind Tausende seiner Landsleute über die Grenzen gekommen. Arbeitnehmerfreizügigkeit ist schließlich eine der Grundfesten der europäischen Idee. Sie wird fleißig genützt, am allermeisten von Rumänen, aber auch von Ungarn.

In den vergangenen zehn Jahren hat die Arbeitsmigration in Europa laut dem Center for European Policy Studies um die Hälfte zugenommen. Es ist meistens das höhere Einkommen, das die rund 20 Millionen "mobilen Bürger" bewegt, außerhalb ihrer Heimat ihr Glück zu versuchen. Grenzregionen bekommen das besonders zu spüren. Im März 2019 hatten von den 104.752 Beschäftigten im Burgenland 16.891 ihren Wohnort im Ausland, die meisten in Ungarn.

Für die Wirtschaft ist das ein Glücksfall, sagt AMS-Burgenland-Chefin Helene Sengstbratl. Baubranche, Tourismus, Handel, all die arbeitnehmerstarken Branchen profitieren – in allen Regionen von Parndorf über den Neusiedler See bis zu Oberwart. "Die Baubranche boomt so stark, dass die Betriebe manche Aufträge gar nicht annehmen können", sagt Sengstbratl. Würden die Ungarn nicht kommen, wären es wohl noch mehr. Sie werken da, wo viele Österreicher nicht mehr allzu gern arbeiten, in Thermenhotels, in der Pflege, in Restaurants oder als Erntehelfer.

Henrietta Hod sagt, ihre Arbeitgeberin sei ein echter Glücksfall. Viele ihrer Freunde und Freundinnen arbeiten in Österreich.
Heribert Corn

Die Früchte dieser Ernten werden in Oberwart mittwochs auch am Wochenmarkt neben altmodisch anmutenden Waren wie Arbeitsschürzen verkauft. Dann ist hier mehr los als an Wochentagen üblich. Marktfahrer packen Kartons mit Eiern, Obst, Gemüse, Körben oder Textilien in ihre Vans. Der Markt sorgt für emsiges Treiben und für Stau in der Bezirkshauptstadt – oder genauer im Bezirksvorort, wie es im Burgenländischen heißt.

Man kommt zusammen, geht einkaufen, tratschen und essen. Im Restaurant Gotthardt's Bank am Hauptplatz ist es schon wieder ruhig geworden. Ein paar junge Leute schwatzen an einem Ecktisch. Ein junges Pärchen kommt bei der Tür herein. "Grüß Gott", sagt Gabor Kajcsos in schönstem Deutsch. Kajcsos, blütenweißes Hemd, schwarze Hose, Bürstenhaarschnitt, ist ein flotter Kellner. Nichts entgeht seinem aufmerksamen Blick. Höflich ist er und gut ausgebildet. Darauf legt der 39-Jährige Wert. "Ich sehe auf den ersten Blick, ob jemand ein Tablett ordentlich trägt oder nicht." Kajcsos pendelt täglich 40 Kilometer zwischen seinem Heimatort Narai und Oberwart, wie seine Freundin, die in der Golf- und Thermenregion einen Job hat.

Seit neun Jahren arbeitet Kajcsos in Österreich. Begonnen hat sein Auslandsabenteuer in Vorarlberg. Das Motiv: "Zu Hause beträgt der Mindestlohn 500 Euro, inklusive Trinkgeld komme ich auf 1000 Euro. Hier verdiene ich das Doppelte." Österreicher wollten ohnehin seine Arbeit nicht machen. "Zu anstrengend für die Einheimischen und zu wenig gut bezahlt", sinniert er. Unrecht hat er damit wohl nicht. "Ich bekomme keine Österreicher" sagt auch Tanja Stöckl. Die umtriebige Unternehmerin hat eine Tankstelle unweit von Oberwart zu einem Nahversorger ausgebaut. Seit sechs Jahren arbeitet Henrietta Hod bei Stöckl. Gut 300 Euro mehr bringt ihr ein Job in Österreich. Das könne sie gut gebrauchen, wo sie sich doch ein Haus in Ungarn kaufen wolle, sagt die 26-Jährige.

Gabor Kajcsos will noch ein paar Jahre bleiben. Fünf vielleicht, wie er sagt.
Foto: Heribert Corn

Das Pendeln zahlt sich aus. Noch, sagt Kajcsos: "Auch in Ungarn steigen die Löhne, und Orbáns Regierung unterstützt Familien beim Wohnungskauf. Wer weiß, was in fünf Jahren ist." Ob Beschäftigte wie Kajcsos und Hod das Lohnniveau in einer Grenzregion wie dem Burgenland drücken, wie Gewerkschaften fürchten, kann der Arbeitsmarktforscher Helmut Mahringer vom Wirtschaftsforschungsinstitut nicht sagen. Die Frage ist komplex. So viel stehe aber fest: Die Lohnentwicklung im instabilen Beschäftigungssegment, in dem Neuzuwandernde meist arbeiten, ist seit der Krise 2009 besonders schwach, hier gab es einen deutlichen Anstieg ausländischer Beschäftigung. Betroffen seien in diesem Segment eher die ersten Zuwanderergenerationen, aber wohl auch heimische Arbeitslose.

Bertold Dallos kennt so manche Problemzonen hingegen ganz konkret. Der Jurist hat im Dienste des ÖGB lange Erfahrung in der Rechtsberatung für grenzüberschreitende Arbeiter. Die bis zu 6000 Erntehelfer, die alljährlich in der Landwirtschaft arbeiten, kommen gar nicht zur Beratung, sagt er: "Die sind austauschbar. Man sagt ihnen, wenn sie nicht spuren, warten andere." Zu den üblichen Verdächtigen – Baubranche, Gastronomie, Transporteure – kämen die vielen Subunternehmer in der Paketbranche. Neu sei, dass ausländische Unternehmer die Masche der österreichischen schwarzen Schafe kopieren. "Zum Beispiel in der Kosmetikbranche. Arbeitnehmer werden nicht angemeldet, und wenn sie dann Rechte einfordern, gehen die Firmen pleite."

Ob Gabor Kajcsos, Henrietta Hod oder Roland Biczó (im Bild): Auf ewig wollen sie nicht in Österreich arbeiten. Biczó spart nicht nur für seine Kinder, sondern auch weil er sich mit einer Gärtnerei selbständig machen will – in Ungarn.
Foto: Heribert Corn

Gabor Kajcsos, Henrietta Hod und Roland Biczó beteuern, dass sie immer gut behandelt worden seien. Von Freunden habe man das eine oder andere gehört, dass sie auf Geld warten mussten etwa. Oder dass einen die Einheimischen da und dort spüren lassen, dass man ihnen nicht ganz ebenbürtig sei. Doch was soll's, so klingt es bei allen dreien. Man mache das für die Kinder oder die eigene Zukunft – bis auf weiteres. Dinge wie die Kürzung der Familienbeihilfe nimmt man da wohl oder übel in Kauf. Nicht ohne Schmerz, wie Biczó sagt: "Ungerecht ist das schon, ich zahle brav Steuern." (Regina Bruckner, 25.5.2019)