Der Alfred-Klinkan-Hof in Wien-Donaustadt wird bei den Festwochen zur Performancebühne: Bewohnerinnen und Bewohner öffnen ihre Fenster und drücken auf Play.

Elodie Grethen

Anna Witt bei der Präsentation ihres Projekts "Beat House Donaustadt" bei der Pressekonferenz der Wiener Festwochen am 2. Mai.

Menschen im Gemeindebau öffnen die Fenster und beschallen den Hof mit ihren akustisch verstärkten Herzschlägen. Das wummert! Was im normalen Leben für Unmut bei den Nachbarn sorgt, nämlich mit dem eigenen Lärm hemmungslos die Wohnanlage zu fluten, ist hier als Kunstprojekt erwünscht. Um einer Gemeinschaft im positiven Sinn Ausdruck zu verleihen: ein für zwanzig Minuten anberaumtes Herzschlagkonzert, das man als Geburtsschrei der Wiener Festwochen in der Donaustadt bezeichnen könnte.

Hier, jenseits der Donau im 22. Wiener Gemeindebezirk hat das Festival heuer erstmals einen zweiten dezentralen Standort innerhalb der Stadt etabliert. Bevor also abends Mariano Pensottis Stück Diamante in der Erste-Bank-Arena eröffnet (siehe Empfehlungen unten), dreht Anna Witts Beat House Donaustadt im unweit gelegenen Alfred-Klinkan-Hof schon um 16 Uhr die Lautstärkeregler auf Vollgas.

Fan des Gemeindebaus

Anna Witt, die Otto-Mauer-Preisträgerin 2018 und derzeit angesagteste Künstlerin Österreichs, hat das Herzschlagkonzept bereits vor einigen Jahren entwickelt – unter anderem zur Beschallung eines allmählich verstummten Industrieviertels in der belgischen Stadt Charleroi. Nun hat sie es für die Wiener Festwochen neu adaptiert. Ein Gemeindebaufan ist die gebürtige Bayerin (Jahrgang 1981), bereits seit sie vor fünfzehn Jahren nach Wien gezogen ist.

Dass Gemeindebauten in Österreich einmal Orte des Widerstands waren (insbesondere im Austrofaschismus) und ein die Gemeinschaft förderndes, sozial stabilisiertes Alltagsleben gewähren wollten, wird heute durch politisch instrumentalisierte Projektionen oft vergessen gemacht, findet Witt. "Es ist extrem subjektiv und oft von Vorurteilen geschürt, was man in den Ort hineininterpretiert." Indes sind die Bewohner in ihrer Diversität kaum greifbar und schon gar nicht auf einen Nenner zu bringen.

Individuell, aber anonym

Anna Witt hat in den letzten Wochen und Monaten an jeder Wohnungstür des Alfred-Klinkan-Hofes geläutet, um unter den rund eintausend Bewohnerinnen und Bewohnern Teilnehmer für das Herzschlagprojekt der Festwochen zu finden. Rund fünfzig Aufnahmen sind es nun geworden; Witt hat sie mittels eines tragbaren Ultraschallgerätes in den Wohnungen der jeweils Mitmachenden selbst aufgezeichnet. Das waren besondere, intime und viel Vertrauen voraussetzende Begegnungen.

Der Herzschlag steht für vieles: Er ist individuell und anonym zugleich, ein Lebenszeichen wie auch eines für Krankheit; er ist jedem ganz eigen, dabei aber frei von allen taxierenden Zuschreibungen. Genau damit überzeugt das Projekt: Hier treten Menschen über ihren kräftigsten Muskel gebündelt in Erscheinung, ohne aber auch nur im Geringsten eine Projektionsfläche für Fremdbestimmungen zu bieten. Witt: "Jeder Herzrhythmus ist anders, aber eben wertbefreit."

Stereoanlagen ein!

"Mein Ziel als Künstlerin ist es, einen Moment zu schaffen, wo dieses Gemeinschaftsgefühl entsteht", so Witt. Entscheidend dabei ist, "dass die Teilnehmer sich selber aufdrehen". Es geht nicht darum, ein perfektes Konzert mit gigantischen Boxen zu veranstalten; zentral ist der Gedanke, "dass jeder und jede selber auf Play drückt – das hat noch einmal eine andere Bedeutung".

So gesehen wird es eine Aufführung ohne Probe, und es bleibt spannend, wie viele letztlich am Samstagnachmittag ihre Wohnungsfenster öffnen und ihre Stereoanlagen in Stellung bringen. Den Klinkan-Hof hat Witt wegen der Nähe zum Festivalzentrum der Erste-Bank-Arena sowie seiner Akustik gewählt, die durch einen fast trichterartigen Effekt Laute besonders gut bündelt. "Wir nützen also die problematischen Stellen der Architektur für unserer Zwecke", sagt Witt.

Alfred-Klinkan-Hof

Und wer war Alfred Klinkan? Der aus Judenburg gebürtige Maler (1950-1994) war allererster Träger des Otto-Mauer-Preises und damit auch einer von Witts Vorgängern – purer Zufall. Klinkan hatte im Gemeindebau eine Zeitlang ein Atelier, nach seinem frühen Tod wurde die Wohnanlage 2001 schließlich nach ihm benannt. Das Beat House-Projekt hätte ihm vermutlich gefallen. Klinkan hat selbst Trichterbilder gemalt. Zum anderen wird die Wohnhausfassade mit ihren geöffneten Fenstern auf gewisse Art auch ein Gemälde – ein Ornament der Masse. (Margarete Affenzeller, 11.5.2019)