Das Mahnmal wurde wiederaufgebaut. Die Uni verzichtete aber darauf, die Zerstörer auszuforschen.

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An einem kalten Jännertag wird auf dem Campus der Aristoteles-Universität in Thessaloniki das Holocaust-Mahnmal in Einzelteile zerbrochen aufgefunden. Verteilt zwischen Bibliothek und Astronomiegebäude liegen die zerschlagenen Steintafeln in der Erde. Zwei Tage vor dem Holocaust-Gedenktag hatten sich Unbekannte ans Werk gemacht und das Mahnmal, das 2014 errichtet wurde, in Trümmer gelegt. Es ist das zweite Mal binnen einem Jahr.

Der Standort des Denkmals ist kein Zufall. Der Hauptteil des größten Campus in Griechenland wurde 1943 auf den Überresten des jüdischen Friedhofs erbaut, teilweise liegen noch Bruchstücke der alten Grabsteine herum. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Hälfte der Bevölkerung Thessalonikis jüdisch, im Zuge des Holocaust wurden 93 Prozent von ihnen ermordet. Heute liegt der Anteil der jüdischen Bevölkerung unter einem Prozent. Seit einigen Jahren versucht der Bürgermeister der Stadt, Giannis Boutaris, die in Vergessenheit geratene Vergangenheit mit Mahnmalen und Gedenkmärschen wieder in Erinnerung zu rufen. Und so ein Licht auf das Antisemitismusproblem des Landes zu werfen.

Hoher Antisemitismus

Sonderlich gut scheint das noch nicht zu funktionieren, zeigen Statistiken. Die US-Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League hat im Vorjahr in 101 Ländern antisemitische Tendenzen untersucht. Das Ergebnis: Mit Ausnahme der Länder des Nahen Ostens, wie etwa Irak, Jemen oder Türkei, sind die Ausprägungen in Griechenland am höchsten. Das Resultat begründet sich auf der jährlichen Zahl an Angriffen auf Synagogen und Denkmäler, Banner bei Demonstrationen und Äußerungen in Politik und Medien.

So trägt etwa die rechtsradikale Partei Goldene Morgenröte bei Demos Banner mit antisemitischen Inhalten. Und Aussagen, wie die des ehemaligen griechischen Verteidigungsministers, Panos Kammenos, dass Juden keine Steuern zahlen würden, sind kein Einzelfall. Zudem stärken die Sanktionen der Wirtschaftskrise und der Mazedonienkonflikt den Nationalismus und fördern die Suche nach einem Sündenbock.

Doch zwischen den Fakten und der Eigenwahrnehmung der Bevölkerung, scheint eine große Kluft zu bestehen. Laut dem Eurobarometer von Jänner sind nämlich 68 Prozent der Griechen überzeugt, Antisemitismus stelle kein Problem dar.

Kleine Kundgebung

Auch an der Uni sind die Studierenden dieser Meinung. "Verschwörungstheorien wie die Idee, dass Juden die Welt regieren, sind weit verbreitet", gibt ein Student zwar zu, doch Judenhass gebe es nicht. Von den Zerstörungen der Denkmäler haben viele nichts mitbekommen. Nur eine kommunistische Studierendengruppe hielt eine kleine Kundgebung gegen Antisemitismus ab. Es blieb die einzige Reaktion der Studierenden – und der Uni. Letztere stellte keine Nachforschungen zur Identität der Denkmalzerstörer an, da auf der Uni keine Polizei zugelassen ist.

Doch warum scheint das auch sonst kaum jemanden zu kümmern? Giorgos Antonious ist Judaistik-Professor an der Aristoteles-Uni. Die Professur wurde 2014 als erste in Griechenland eingeführt. Laut mehreren Studien, die er gemeinsam mit Kollegen durchgeführt hat, hätte die Ignoranz einen bestimmten Ursprung: den Hang der Griechen zur Selbstwahrnehmung als Opfer der Geschichte, etwa durch die ständigen Erzählungen der osmanischen und deutschen Besatzung sowie der Diktatur. Das führe zur Unterschätzung des Antisemitismus. Das ändere sich langsam: "Gegen die jüdische Gesellschaft gibt es heute mehr Angriffe denn je, wir haben uns aber auch noch nie so lautstark geäußert."

Keine Auseinandersetzung

Antonious unterrichtet zwei Kurse für Bachelorstudierende. Das sei eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Die meisten hätten von früheren oder heutigen antisemitischen Vorfällen in Griechenland noch nie etwas gehört oder sich kritisch damit auseinandergesetzt, erklärt er. An den Schulen würde das meist nicht unterrichtet.

Nun wird die Unwissenheit immer mehr zur Instrumentalisierung nationalistischer Tendenzen genutzt. Es dürfte kein Zufall sein, dass das Mahnmal am Tag der finalen Gespräche über die Namensänderung Nordmazedoniens zerstört wurde. Antisemitische Vorfälle fielen in der Vergangenheit häufig mit Demos gegen das Abkommen zusammen, dessen Gegner eine jüdische Verschwörung vermuten.

Das Mahnmal ist inzwischen restauriert – auf Kosten der jüdischen Gemeinschaft Thessalonikis. (Sarah Yolanda Koss, 13.5.2019)