Der Kultureuropäer ist in Falr Richters Stück im Werk X stark verunsichert oder queer und sagt Sachen wie: "Ich will Wale schützen!"

Foto: Matthias Heschl

Als der Episodenfilm Deutschland im Herbst 1978 in den Kinos anlief, schien das titelgebende Land mit sich komplett im Unreinen. Das Gespenst der Hysterie ging um in der Bundesrepublik. Rainer Werner Fassbinder interviewte in einer Schlüsselszene des Films die eigene Mutter. Er entlockte ihr höchst unschöne Kommentare zur Lage: Ein "lieber, netter Führer" wäre angesichts von RAF-Terror und vermeintlicher Überfremdung in den Augen Liselotte Eders keinesfalls grundverkehrt gewesen.

Als Echo eines Echos hallen die unbehaglichen Worte der Mutter jetzt im Meidlinger Werk X nach. Eine Gruppe Schauspieler spielt einen Text, den der Autor und Regisseur Falk Richter der ominösen Fassbinder-Episode sehr frei, aber auch mit unbestechlichem Gehör nachempfunden hat. Je suis Fassbinder – Deutschland im Herbst 2016 zeigt ein Häuflein Filmprofis bei der (vermeintlich) improvisierten Arbeit.

Schauspieler spielen Schauspieler

Zwei Frauen und drei Männer (plus ein Musiker) stehen noch sehr konkret unter dem Eindruck der bundesdeutschen Grenzöffnung von 2015. Ein Fassbinder (Martin Hemmer), der eigentlich "Stan" heißt, bringt einen bärtigen Mimen (Arthur Werner) dazu, anno 2019 etwa so ungereimtes Zeug daherzureden wie Fassbinders Mutti 41 oder 42 Jahre davor. Chapeau! Der Mama-Darsteller legt sich auch wirklich derart inbrünstig ins Zeug, dass er selbst meint, ihm wüchsen gleich Brüste.

Der Witz besteht in der fingierten Spontanität, mit der Schauspieler (die Schauspieler spielen) Borniertheiten von sich geben. Die Schlüsselfrage lautet folgerichtig: "Ist das Text, oder machst du privat ...?" Man möchte die Hand jedenfalls für keine Angehörige und keinen Angehörigen dieser Fassbinder-Familie ins Feuer legen.

Grundsympathisch, aber...

Ein Film soll entstehen. Man verliert jedoch den Plot vollkommen aus den Augen, weil die Darsteller in der Regie von Amina Gusner bloß lauter Verfremdungseffekte aneinanderhängen, wie Perlen, die sie auf eine Kette fädeln. Immer wieder erhebt, gleichsam von allen politischen Nebenumständen abstrahiert, das neoliberale Subjekt sein Haupt. Der Kultureuropäer ist stark verunsichert, oder er ist queer. Er sagt Sachen wie: "Ich will keine Angst haben!" oder: "Ich will Wale schützen!" Wir Wohlstandsbürger beherrschen unsere Skripttexte perfekt. Das stimmt uns leider sehr oft traurig.

Und dennoch fehlt es dieser eigentlich grundsympathischen Werk-X-Produktion, diesem Oratorium zwischen Schminktisch und Eiskasten (Ausstattung: Inken Gusner), nachhaltig an Chaos. An einer Portion Wahnsinn, die den geläufigen Konsens über das, was sagbar ist und zu wünschen übrig bleibt, aufs Spiel setzt. Denn gerade das hat uns Fassbinders Werk alle gelehrt: Es gibt keine Schönheit ohne Gefahr. (poh, 7.5.2019)