Gezwungen, die eigenen Errungenschaften auch gegenüber den Christlich-Sozialen anzupreisen: Plakat der SDAP für den Wahlkampf 1932 (Entwurf: Siegfried Weyr).

Foto: Wien Museum

Als Wiens Sozialdemokraten 1932 ihre Verdienste um den kommunalen Wohnbau herausstrichen, bemühten sie voller Stolz diverse Superlative. Im Zeitraum von 1923 bis Ende 1933 waren nicht weniger als 63.934 Wohnungen aus den Mitteln der Wohnbausteuer errichtet worden. Das Allroundgenie Otto Neurath hatte eine statistische Bildsprache entwickelt, mit deren Hilfe sich auch sperrigste Daten für Laienaugen plausibel aufbereiten ließen. Kolonnen von Strichmännchen reihten sich auf im Dienst der guten Sache. Die rote Wiener Stadtregierung hatte in den Jahren nach 1920 ein beispielloses Fürsorgesystem entwickelt. Der Masse der arbeitenden Menschen sollte ein Leben in Würde und bescheidenem Wohlstand ermöglicht werden.

Die Ausstellung Das Rote Wien, zu besichtigen im MUSA in unmittelbarer Nachbarschaft zum Rathaus, entwirft denn auch ein Bild lückenloser Vergesellschaftung (Kuratoren: Werner Michael Schwarz, Elke Wikidal und Georg Spitaler). Es bleibt eine Frage des Standpunkts, ob man sich vom Ideal einer umfassend wirksam werdenden Gemeinschaftlichkeit abgestoßen fühlt, oder aber ergriffen.

Es gibt tausend gute Gründe, 90 oder 100 Jahre später Bewunderung zu empfinden. Es wimmelt nur so von Betriebsamkeit auf den Schwarzweißfotos, auf den Filmchen von Seiltänzern, die – aus Anlass proletarischer Volksbelustigungen – Wiener Arbeiterinnenherzen einst höher schlagen ließen. Ob im Fürsorgeheim oder in einer der zahlreichen Erholungseinrichtungen: Die Menschen sehen gefasst aus auf den zahlreichen Bilddokumenten. Bekundungen des Frohsinns behielten die Schöpfer einer neuen Welt lieber der Intimität der eigenen vier Wände vor. Dabei wirken sie konzentriert, als ob auch ihre Freizeitgestaltung unter die Gesetze der Arbeitsmoral fiele.

Vom frühen Gärtnerglück der Siedlungsbewegung hin zu den proletarischen Wohnpalästen von Karl-Marx- und Karl-Seitz-Hof spannt sich ein mächtiger Bogen. Unter ihm finden praktisch alle Aspekte des Alltagslebens Platz.

Subjekt der eigenen Sache

Die Menschen werden von den Vertretern des heimischen "Austromarxismus" als Subjekte ihrer eigenen Angelegenheiten ernst genommen. "Der Geist allein ist es, der die neuen Wirklichkeiten schafft", heißt es dazu noch 1927. Massenobjekte, denen die herrschende Auffassung kein Gesicht zubilligt, keine eigene Meinung, sollen sich in selbstbewusste Individuen verwandeln, in originäre Gestalter des eigenen Geschicks. Allein um solche schöpferischen Kräfte freizusetzen, formt man die gesamte Wiener Infrastruktur um. An die Stelle eines Elends, das sich selbst überlassen bleibt, tritt das Ideal umfassender Befürsorgung durch die zuständigen Magistrate. Der weggelegte Säugling findet Aufnahme in der "Kinderübernahmsstelle" (KÜST). Der Verstorbene wird von der Flamme kremiert, sodass für die Angehörigen keine untragbaren Kosten entstehen.

Zur Hygienisierung und Demokratisierung der kommunalen Öffentlichkeit tritt, als der vielleicht nobelste Aspekt roter Politik, die Pädagogisierung. Otto Glöckels Schulreformen bilden die Grundlage eines klassenlosen Bildungssystems. In dieses schlüpfen die neuen psychologischen Bewegungen unter, um bereits die Schwächsten, arme Kinder und Traumatisierte, wirkungsvoll therapieren zu können.

Bewunderer des Gemeinsinns

Wie denn überhaupt auffällt: Gerade bürgerliche Künstler und Intellektuelle wie Robert Musil, Alfred Polgar oder Hans Kelsen ziehen vor den Errungenschaften des neu entstandenen Gemeinsinns bewundernd den Hut. Das Bild lückenloser Behütung reicht vom Montessori-Kindergarten hin zu Arbeitergesängen. Zwölftöner wie der Schönberg-Schüler Anton Webern dirigierten voller Inbrunst Chöre von zu neuem Leben erweckten Subjekten.

Ob die Wohnungen in den Gemeindebauten letztlich zu klein und zu eng waren; ob die Gleichstellung der Frauen nicht energisch genug betrieben wurde; ob der Baustil der Architekten zu kleinbürgerlich war, zu sehr befangen in Halbherzigkeit: Dies alles lässt sich heute nicht mehr eindeutig entscheiden. Von großer Hellsicht erscheint dagegen das von Parteitheoretikern wie Victor und Max Adler, Otto Bauer und Rudolf Hilferding den Reformen zugrunde gelegte Menschenbild.

Von 1920 bis 1934, ehe die Demokratie in Österreich von Dollfuß endgültig zertreten wurde, frönte man dem Kollektivismus. Max Adler postulierte gerade mit Blick auf das erkennende Subjekt die Vorgängigkeit, die das Soziale genießt. Individuell frei ist derjenige, der sich mit anderen zusammenschließt. Der "emanzipatorische Sozialismus" träumte von einer Klasse selbstbestimmt Handelnder, die auf Basis fortgeschrittener Bildung ihr Menschsein zum Wohle aller entfaltet.

Daran darf in Zeiten des Neoliberalismus getrost erinnert werden: Dass man nicht nur deshalb frei und alleingelassen ist, um dem Markt einsam die Stirne zu bieten und so zu seines Unglückes Schmied zu werden. Die Stadt Wien täte ohnedies gut daran, das damalige Konzept kommunalen Wohnbaus neu – und zeitgemäßer – aufzulegen. (Ronald Pohl, 6.5.2019)