Wie kann sie ihre Kinder nur so im Stich lassen? Das meint in letzter Konsequenz auch mich. Ich bin "im Stich lassen".

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Wenn ich meinen Geschlechtsgenossen in Vorträgen und Texten erzähle, dass Feminismus auch für Männer eine ziemlich brauchbare politische Idee sein kann, mache ich das zumeist an drei Punkten fest: Solidarität, Eigennutz und Freiheit.

Solidarität, weil man bestimmte Dinge wie Übergriffigkeiten, Lohnungerechtigkeiten und sexualisierte Gewalt gegen Frauen einfach nicht so stehenlassen kann. Eigennutz, weil diese und viele andere Dinge auch Männer betreffen können und sie dafür ausgelacht und als Lügner beschimpft werden. Außerdem läuft man in Gesellschaften, die Teilen der Bevölkerung ihre Bürgerrechte vorenthalten, immer Gefahr, der Nächste zu sein. Und Freiheit, weil es ja manchmal ganz nett sein mag, als dauergeile, schmerzresistente, fußballbegeisterte Arbeitsmaschine wahrgenommen zu werden. Aber das sind allenfalls Privilegien. Mit Freiheit hat das nichts zu tun.

Eines der markantesten Beispiele, die mir zur Verdeutlichung dieser drei Punkte einfallen, ist die Figur der Rabenmutter. Die scheint ja in erster Linie ein Problem für Frauen zu sein. Sicher, es gibt auch den Rabenvater, aber der Vorwurf der systematischen Kindesvernachlässigung wird weder so breit erhoben wie bei Frauen, noch ist der Begriff so gebräuchlich wie sein Gegenstück.

Wie kann sie nur?!

Rabenmutter also. Nach gängigen gesellschaftlichen Standards ist eine Rabenmutter eine Frau, die trotz Kind ihre Karriere vorantreibt, den Nachwuchs fremdbetreuen lässt und sich auffallend häufig ohne Kinder in der Öffentlichkeit zeigt. Mit anderen Worten: meine Lebenskomplizin. Seit sie vor kurzem einen neuen Job in Berlin angenommen hat und ich unsere Kinder vier bis fünf Tage die Woche allein betreue, wird ihr dieser Vorwurf wieder als Knüppel zwischen die Beine geworfen und als Schandmal ins Gesicht geschmiert: "Was ist das nur für eine Rabenmutter? Wie kann sie ihre Kinder nur so im Stich lassen?"

Solidarität meint an der Stelle zunächst, die ganze Widerlichkeit der üblichen Doppelmoral auf sich wirken zu lassen: Niemals, wirklich niemals hat der Umstand, dass ich Vater von immerhin vier Kindern bin, irgendjemanden dazu veranlasst, mir in Arbeitszusammenhängen die Betreuungsfrage zu stellen. "Wie ich das eigentlich mit den Kindern mache", wenn ich drei Tage beruflich in einer anderen Stadt bin, interessiert niemanden. Irgendwer wird sich schon drum kümmern. "Irgendwer" meint meine Lebenskomplizin. Oder eine andere Frau. Oma, Tante, Babysitterin. Businessmäßig bin ich kinderlos. Selbst wenn das Schreiben über meine Kinder auch Teil meines Business ist, veranlasst das niemanden, mich auf meine Vaterrolle zu reduzieren.

Der Vater als "Notlösung"

Eigennutz bedeutet, sich den Rabenmuttervorwurf noch mal ganz langsam auf der Zunge zergehen zu lassen: "Wie kann sie ihre Kinder nur so im Stich lassen?" Das meint in letzter Konsequenz auch mich. Ich bin "im Stich lassen". Egal wie sehr ich mich reinhänge. Egal wie viel Zeit und Kraft ich investiere, organisiere, koche, bespiele, tröste, erziehe – nichts davon ist ausreichend. Ich bin die Notlösung. Eine zeitliche Überbrückungsmaßnahme, die schnellstmöglich von Mutti beendet werden muss, bevor mir bei der Betreuung der Kinder etwas Größeres schiefgeht. Ich werde nicht an meinen Taten, sondern an meinem Geschlecht gemessen. Eigennutz bedeutet, dass man sich nicht dafür als Aushilfskraft bezeichnen und behandeln lassen will, wenn es einem in einem Sturm aus Abermillionen kindlichen Bedürfnissen, Job- und Alltagsanforderungen halbwegs gelingt, nicht unterzugehen.

Und Freiheit fragt zuletzt danach, was davon selbst- und was fremdbestimmt ist. Auch und gerade von den Dingen, die sich zuweilen ganz gut anfühlen. Ich würde lügen, wenn ich Ihnen weismachte, es sei nicht nützlich, jobmäßig als unabhängige, voll einsatzfähige Arbeitskraft eingeschätzt zu werden. Als jemand, dessen familiäre Verpflichtungen sich auf ein Minimum beschränken und der Karriere in keiner Weise im Weg stehen. Das ist ein Privileg. Es wird mir einfach zugesprochen.

Freiheit in diesem Mutti-Vati-Kasperletheater

Aber was hat es mit Freiheit zu tun, dass ich mich zur Verfügung zu halten habe und gefälligst Karriere machen soll? Wo bin ich frei, wenn ich zwar bei einer Weltmeisterschaft in einem Sport, der mich anödet, auf Arbeit früher Schluss machen kann, aber nicht weil eins meiner Kinder mich braucht? Wo ist die Freiheit in diesem ganzen Mutti-Vati-Kasperletheater, das Frauen und Männer qua Geschlecht aufzuführen haben – ob sie nun wollen oder nicht?

Die Freiheit, als Vater oder Mutter die bestmögliche Version seiner selbst zu sein und sich zugleich beruflich zu verwirklichen, existiert nicht. Und so sehr sie auch an den realen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt scheitert, so viel mehr wird sie durch die surrealen Geschlechtszuweisungen in den Köpfen der Leute verunmöglicht. An beide Problemfelder müssen wir unbedingt ran. Ich bin dabei ja für Feminismus. Wenn Sie was Besseres haben, geben Sie mir Bescheid. (Nils Pickert, 5.5.2019)