Seit der zwölfeinhalbstündigen, stark unterkühlten Zugfahrt von Chengdu nach Schanghai trage ich eine ordentliche Erkältung mit mir herum. Um es trotzdem irgendwie zu schaffen, aufzustehen, um den Flug nach Seoul zu erwischen, wollte ich mich vorsorglich am Vorabend schon mit Kaffee zuschütten, dann schnell einschlafen, bevor er anfängt zu wirken, und ausgeschlafen aufwachen, wie es jeder vernünftige Mensch tun würde. In Schanghai gibt es dann aber doch nicht ganz so viele Cafés wie erhofft und so komme ich etliche Stunden später schließlich verschnupft und schlaflos am Flughafen Seoul an und drück mir selbst die Daumen, dass die Wärmekamera meine fiebrige Stirn nicht erfasst. Sie tut es nicht. Das heißt, entweder bin ich gar nicht so krank, wie ich denke, oder die Kameras funktionieren nicht. Ich tippe auf Letzteres, denn ich bin seit jeher hypochondrisch veranlagt und werde sicher jetzt nicht damit aufhören.

Seoul ist doch kein Horrorfilm

Unsere Ankunft beginnt bereits wahnsinnig kitschig mit der schönsten Landschaft, die ich jemals durch ein Flugzeugfenster gesehen habe. Der Landeanflug nach Incheon, dem vorgelagerten Flughafen Seouls, erstreckt sich über weite, blitzende Wasserflächen, durchsetzt von kleinen Inseln, die über und über mit dichtem Wald bewachsen sind. Dazwischen sind kleinere und größere Fischerboote mit Fangnetzen unterwegs.

Wir haben beide nicht genau gewusst, was uns in Korea erwartet. Jimmy hat so gut wie überhaupt keine Erwartungen gehabt. Ich hingegen bin etwas voreingenommen, da ich alle Park-Chan-wook-Filme gesehen habe und daher davon ausgegangen bin, dass wir direkt in einen wunderschön ausgeleuchteten Indi-Psychothriller mit für die Ernsthaftigkeit der Situation viel zu unangemessener positiver Atmosphäre schlittern, mit klassischer Musik untermalt und mit beklemmender sexueller Anspannung und unterdrückter Gewalt im Hintergrund, an dessen Ende ein gigantischer Plot-Twist auf uns wartet, der uns völlig aus den Socken haut.

Dächer über Seoul.
Foto: Jimmy Brainless

Cafés, Dönerstände, Sexshops und Moscheen

Bisher hat sich diese Tendenz auch eher bestätigt. Wir wohnen in Itaewon, einem Stadtteil der sich, wie so viele ehemalige verruchte Stadtviertel der Welt, nach und nach der Gentrifizierung ergeben hat und jetzt ein Mosaik aus bunten Lichtern, diversen Bars, Sexshops, Schwulen- und Lesbenclubs, Dönerläden, katholischen Kirchen und Moscheen ist, die alle völlig problemlos auf engstem Raum miteinander auskommen, während es im Hintergrund "Für Elise" aus diversen Lautsprechern trällert.

Was mir aber am allermeisten ins Auge springt, sind die Cafés – so viele Cafés. Es sind wirklich absurd viele, und neben den Starbucksfilialen sind tatsächlich auch noch zehnmal so viele, völlig unabhängige kleine Betreiber, die großartigen Kaffee zubereiten. Ich bin im Himmel, Jimmy ist skeptisch. Er meint, wir sind einfach in der versnobbten Hipstergegend der Stadt gelandet, die absolut nicht aussagekräftig für ganz Seoul ist. Ich will schon anfangen, das Viertel zu verteidigen, weil es mir eigentlich sehr gefällt, aber dann sehe ich eine Bar mit Avocadoburgern gegenüber von einem Laden mit veganem Sushi und muss mir eingestehen, dass ich ein versnobter Hipster bin. Ich gehe drei Zentimeter zum nächsten Café und ertränke meinen Kummer in zwei Litern Café Latte mit Zimt.

Jimmy hat halb recht. Die bunten Bars und Shops lichten sich an den Rändern unseres Bezirks zwar etwas, aber die Cafédichte bleibt trotzdem durch die ganze Stadt hindurch beständig hoch. Und je öfter ich an einem vorbeilaufe, desto weniger kann ich mich beherrschen, bis ich schließlich den ganzen Tag nur noch Espressi und Cappuccini in mich reinschütte und pausenlos darüber rede, wie toll ich die Stadt finde, obwohl ich mich bisher ja eher nur darüber freue, meine österreichische Italienfaszination in einem asiatischen Land wiederentdeckt zu haben. Ich bin ein schlechter Reisender, aber ein guter Tourist. Aber scheiß drauf, danach sind wir eh noch zwei Wochen in Taiwan, und bis dahin werde ich mir all den guten Kaffee gönnen, den es dann vielleicht nicht mehr geben wird.

Abseits des Kaffees wirkt die Seouler Küche auf mich bisher überraschend gesund. Nicht, dass ich davon ausgegangen wäre, sie wäre ungesund, aber es ist einfach so, dass man essen geht, das Gefühl hat, sich richtig vollzufressen, und gleichzeitig das Gefühl hat, man hat seinem Körper etwas Gutes getan, weil das Essen im Grunde fast nur aus ballaststoffreichem Gemüse, scharfen Gewürzen, (Wild-)Reis und exakt der richtigen Menge Fleisch oder Fisch besteht. Ich fühle regelrecht, wie das Essen, die saubere Luft und der Koffeinkick die Erkältung aus meinem Körper dreschen – allerdings nur, um fünf Minuten später eine komplette Pollenallergie zu entwickeln, da die Dichte an weißen, flauschigen, herumschwirrenden Wattebäuschen leider mindestens so hoch wie in Peking und beinahe so hoch wie die Anzahl der Cafés ist. Na ja, dafür macht mir die Schärfe des Essens jetzt nichts mehr aus.

Open-Air-Geschichtsaufarbeitung im Palast

Am Tag nach unserer Ankunft spazieren wir in die Stadt hinein und kommen zufällig am Deoksugung-Palast vorbei. Und gerade als wir uns im Palastgarten umsehen und ich Jimmy obergscheit mein Halbwissen über die koreanische Schriftsprache erkläre (die extrem spannend ist, weil sie eine faszinierende Mischform aus Buchstaben- und Silbensprache darstellt, die erst vor circa 500 Jahren erfunden wurde), hören wir plötzlich dramatische Filmmusik vom Palast kommen und sehen um die 60 Personen in traditionellen Kostümen gekleidet, die anfangen zu tanzen und zu singen. Wie sich herausstellt, sind wir in eine Probe für ein Art Open-Air-Musical gestolpert, dass hier regelmäßig aufgeführt wird und in dem es, so reimen wir uns aus den einzelnen Szenen zusammen, um die Geschichte Südkoreas geht. Dass es eine Probe ist, glauben wir daran zu erkennen, dass ein Mann in Schiebermütze die ganze Zeit durchs Bild läuft und Regieanweisungen erteilt. Das Stück wandert über das ganze Palastareal wie ein Stationentheater, und Frauen in blauen, habitartigen Gewändern eskortieren die Zuschauer jeweils freundlich und bestimmt zum nächsten Schauplatz.

Darsteller im Deoksugung-Palast.
Foto: Jimmy Brainless

Der Hauptdarsteller ist in ein rotes, weites Gewand gehüllt und singt meistens herzzerreißend traurig zu aufrührenden Klavier- und Geigentönen. Und mag es die Performance sein oder die zwanzig Latte Macchiatos, aber ich bin komplett dabei. Die Hauptfigur bekommt ein Buch geschenkt und rezitiert daraus, dann sieht er offenbar irgendetwas Schockierendes und schlägt das Buch zu – überwältigt von seinen eigenen Tränen klagt er, an eine Säule gelehnt, sein Leid, während im Hintergrund wieder die Geigenmusik ansetzt. Eine Frau betritt die Szene und klagt zusammen mit ihm über das Leid, während sich einige Cellos und ein Klavier zur Geigenmusik mischen. Dann wird die Musik leiser, die Frau geht ab und der Mann sinkt schluchzend zu Boden. Der Erzähler (bei der Probe wie der Regisseur auch noch ohne Kostüm in blauen Jeans und Hemd) tritt auf und erklärt irgendwas, bevor er wieder verschwindet.

Plötzlich tauchen sechs Soldaten in roten Gewändern und mit aufgeklebten Schnurrbärten auf. Sie sollen, glaube ich, Chinesen darstellen. Sie sind eher unfreundlich, wenn auch nicht gewalttätig. Dann tritt jedoch zu einer Art Darth-Vader-Theme ein Mann auf, den ich für eine Darstellung von Kim Il-sung halte, begleitet von acht Soldaten in nordkoreanischer Militärtracht. Jetzt wird’s brenzlich. Sie marschieren wesentlich steifer und zielstrebiger als die Chinesen auf den Protagonisten zu. Einige Zuschauer aus dem Publikum buhen die Nordkoreaner aus. Der Regisseur ermahnt sie, dass es nur Schauspieler sind, und die Zuschauer nicken besänftigt. Die Darstellung war einfach zu real.

Der Protagonist bekommt es mit der Angst zu tun. Die Soldaten (von denen übrigens auch einige von Frauen gespielt werden) tanzen mit ihren Maschinengewehren, singen etwas Militantes mit äußerst hart betonten Konsonanten, die Musik schwillt mit Pauken und Geigen an, und dann ist die Szene aus. Die blauen Nonnen drängen uns weiter zum nächsten Akt. Jetzt stehen sieben Männer in hohen gelben Hüten und gelb-goldenen steifen Gewändern zwischen Bäumen verteilt und singen.

Ich drehe mich, ganz der Hipstersnob, der ich bin, zu Jimmy und sage: Dieses Bühnenbild ist aber wirklich fantastisch! Ich meine es ernst. Ich bin komplett hooked, als jetzt auch noch eine Menge Frauen in Bauernkleidung auftritt, mit kaputt wirkenden Maschinengewehren in den Händen und Bandagen an Armen oder Beinen. Es sind die geächteten Bäuerinnen oder sowas, die jetzt zusammen mit dem Typen von vorhin im roten Gewand eine Art Aufstand gegen die Nordkoreaner und die Chinesen starten. Sie kämpfen lange zu schneller, bombastischer Musik, aber die Schlacht endet, glaube ich, als Patt. Die Bäuerinnen singen daraufhin etwas niedergeschlagen die alte südkoreanische Hymne, die noch zur schottischen Melodie von "Auld Lang Syne" geschrieben war und trotten erschöpft zur nächsten Szene, vor einer Art Rathaus.

Ein Typ, den ich bisher irgendwie noch nicht registriert habe, tritt plötzlich auf und hält eine politische Brandrede zu lauter werdender, sich pompös aufbauender Musik, die schließlich in der einheitlichen frenetischen Zustimmung aller umstehenden Bürger (einschließlich der Zuschauer) endet. Schließlich wird daraufhin die südkoreanische Flagge von zwei Bäuerinnen entrollt, und alle singen das Thema des Stückes noch ein letztes Mal mit Tränen in den Augen, bevor sie noch ein allerletztes Mal zur Auld-Lang-Syne-Hymne ansetzen und das Stück in einem typisch schottischen D-Dur-Akkord endet (Vermutung).

Alle Darsteller kommen auf die Treppen des Gebäudes im westlichen Stil und lassen sich von den Zuschauern beklatschen. Sogar die Nordkoreaner bekommen Applaus. Ich bin absolut begeistert und kann nun mit Sicherheit sagen, dass ich mich dank des Stücks bis ins letzte Detail absolut perfekt mit der koreanischen Geschichte auskenne. Ich weine und klatsche, und der Enthusiasmus kommt nur bedingt vom Koffein und die Tränen nur bedingt von der Allergie.

Regisseur dirigiert die Schlussszene.
Foto: Jimmy Brainless

Die Mapo-Brücke – It’s just a bad day, nothing else

Am nächsten Tag, als die Koffeinwirkung endlich nachgelassen hat, gehen wir auf meinen Wunsch hin zur Mapo-Brücke, eine der Brücken, die das donauinselartige Finanz- und Politikzentrum Seouls, Yeouido, mit dem nördlichen Bezirk Mapo verbindet und außerdem dafür bekannt ist, dass es dort zwischen 2007 und 2012 über 100 Suizidversuche gegeben hat, die auch danach nicht aufgehört haben. Auf verschiedenen Rankinglisten landet Südkorea immer wieder in den Top drei der Länder mit der (relativ zur Einwohnerzahl) höchsten Suizidrate.

Als Reaktion auf die Selbstmorde hat die Stadtverwaltung zusammen mit der Samsung Life Insurance einen Kletterschutz sowie positive Nachrichten in Auftrag gegeben, die das gesamte Geländer vom Nord- zum Südufer an der Brücke angebracht sind. Dazu eine goldene Statue von einem älteren Mann, der einem jüngeren Mann aufmunternd in die Wange kneift, Bilder von glücklichen Familien, positive Comics sowie Bewegungsmelder, Kameras, Lautsprecher und Telefone zu einer Hilfshotline, etwa alle 50 Meter.

Inoffizielle Botschaft auf dem Geländer der Mapo-Brücke.
Foto: Jimmy Brainless

Auf Youtube findet sich ein Video der "Bridge of Life" genannten Kampagne, wo eine fröhliche Männerstimme zur Start-up-Akustikgitarrenmusik im Tonfall eines Emirates-Bordunterhaltungs-Informationsvideos die Features der Suizidpräventionstechnologie erklärt, bevor ein energetisches Anime-Intro-Gitarrensolo den lebensbejahenden Schluss einleitet. Die Botschaften auf der Brücke sind dabei jedoch nicht nur rein lebensbejahend, sondern haben zum Teil einen recht erdrückenden Charakter mit Fragen wie "Willst du deinen Kindern etwa so in Erinnerung bleiben?", und auch die im Video sloganartig genannten Messages "We wanted to save these lives by changing the bridge" oder "We wanted to keep them company and have them end up going all the way across the bridge" vermitteln den befremdlichen Eindruck, es läge an der seltsamen Bauweise der Brücke, dass die Suizidrate so hoch ist.

DigitalMarketAsia

Neben den offiziellen Botschaften finden sich kleine Graffitis von Privatpersonen, manche eher persönlich, andere generell gehalten, zum Teil auch auf Englisch oder in anderen Sprachen. Und obwohl sie gut gemeint scheinen, reißen mich einzelne Botschaften dann doch sehr heraus, wie die Nachricht "It’s just a bad day, nothing else" und ich werde das Gefühl nicht los, dass das insgesamt die Botschaft ist, die diese Kampagne damit vermitteln will.

Ich will mir wirklich kein endgültiges Urteil anmaßen, aber höhere Zäune und nettere Sprüche scheinen dann doch das Suizidproblem nicht an der Wurzel zu packen (angefangen damit, dass es noch dutzende weitere Brücken über den Han-Fluss gibt). Dennoch hat es irgendwas Beruhigendes, die Stimme einer anderen Person neben sich zu vernehmen, sei es auch nur als Schrift auf dem Brückengeländer und selbst wenn die Nachrichten nicht ganz den Kern der Sache treffen. Nach dem Überqueren der Brücke bin ich nahe dran, mich mit Jimmy in eine komplette Diskussion über Suizidprävention zu werfen, vor allem, weil ich manchmal gewissen radikaleren Ethikpositionen nicht ganz abgeneigt bin, aber die Pollenkonzentration auf Yeouido ist derartig hoch, dass ich zwischen dem Niesen gar nicht mehr zum Sprechen komme, und ich glaube, das ist auch ganz gut so.

Seouls grün-weißer Fleck

Auf dem Rückweg nach Itaewon wollen wir durch einen Park gehen und merken erst am stacheldrahtgesäumten Eingang mit Militärkontrolle, dass der Park kein Park, sondern eine riesige US-Militärbasis exakt in der Mitte Seouls ist. Wir fragen, ob wir durchkönnen, aber der koreanische Wachposten mit Gewehr im Anschlag erklärt uns freundlich, wir brauchen eine Militär-ID, sonst kann er uns nicht reinlassen.

"Friendship-House" im "Yongsan Garrison" US-Militärareal.
Foto: Jimmy Brainless

Wer sich dafür interessiert, kann sich einmal die Seoul-Karte auf Google Maps anschauen und einfach den gigantischen grün-weißen Bereich in der Mitte suchen, in dessen gesamten Areal kein einziger Straßen- oder Gebäudename eingezeichnet ist. Ich bin etwas schockiert, allerdings auch schon furchtbar erledigt vom ganzen Tag und beschließe die Überlegungen darüber lieber auf später zu verschieben. Morgen fahren wir dann nach Gangnam. Ich will mir endlich auch eines dieser unsichtbaren Pferde kaufen. (Elias Hirschl, 2.5.2019)