Warum reden die Leute immer noch vom Brand der Notre-Dame? Nicht nur die Gläubigen hat dieses Ereignis erschüttert. Auch Leute, die nie in die Kirche gehen, zeigten sich bewegt, und in Österreich wurde sofort die Frage laut: Und was ist mit dem Stephansdom? Sind diese berühmten Kathedralen den Menschen nur deshalb teuer, weil sie bedeutende Gebäude und sichere Touristenmagneten sind? Oder verbirgt sich dahinter so etwas wie eine verschämte Sehnsucht nach etwas Heiligem?

Sowohl die Notre-Dame wie auch der Stephansdom stehen in der geografischen Mitte der Hauptstadt. Nicht umsonst hat Präsident Macron die Kathedrale "das Herz Frankreichs" genannt. Das gilt auch für die Dorfkirchen auf dem Land. Ein Gotteshaus mit dem zum Himmel weisenden Turm steht überall in Österreich auf den Hauptplätzen, umrahmt von Wirtshaus, Schule und Rathaus. Alle Straßen führen dorthin. In den neuen Siedlungen gibt es meist keine Kirchen – mit dem Resultat, dass diesen Häuseransammlungen ein Mittelpunkt fehlt, an dem sich alle orientieren können.

Keinerlei Rendite

Es stimmt natürlich, dass die christlichen Kirchen an Einfluss verlieren und immer weniger Menschen kirchliche Anweisungen wichtig nehmen und diesen folgen. So gesehen, scheint es tatsächlich überholt und einigermaßen absurd, dass vielerorts ausgerechnet auf dem teuersten Grundstück einer Gemeinde, mitten im Zentrum, ein Gebäude steht, das nichts einbringt und keinerlei Rendite aufweisen kann. Jeder kann gratis ein und aus gehen und so lange darin verweilen, wie er möchte. Jede Bank, jedes Einkaufszentrum würde für diesen Standort Millionen zahlen und dort hohe Umsätze machen. Trotzdem legen die Leute Wert auf ihre Kirchen, die großen Kathedralen wie die kleinen Dorfkirchlein. Viele sagen: Ich mag keine Gottesdienste, keine Predigten, und ich will mit der offiziellen Kirche nichts zu tun haben. Aber ich gehe gern hie und da in ein leeres Gotteshaus, setze mich in eine Bank und bleibe dort eine Weile sitzen. Es ist still dort. Man kann gut nachdenken. Oder auch an gar nichts denken.

Offensichtlich ist es heutzutage mit der Institution Kirche so ähnlich wie mit den kirchlichen Gebäuden. Die Institution hat keine Macht mehr und keine Mittel, ihre Ansprüche an die Gesellschaft durchzusetzen. Aber sie ist da. Und das ist vielen, die längst aus ihr ausgetreten sind, auch recht so. Das hat sich nicht zuletzt bei der Diskussion um die Behandlung von Flüchtlingen gezeigt.

Unmenschliche "Ausreisezentren"

Wer findet, dass Asylwerber zu viel Geld bekommen und, wo immer möglich, abgeschoben gehören, ist insgeheim ganz froh, dass es irgendwo doch noch jemanden gibt, der sich um diese Menschen kümmert. Als der Kardinal es "unmenschlich" nannte, dass die Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge neuerdings "Ausreisezentren" heißen, sagten viele: endlich. War auch höchste Zeit. Und als die kleinere Regierungspartei auf die Caritas losging, waren viele nicht einverstanden, auch diejenigen nicht, die sonst für die "Willkommenskultur" wenig übrighaben. Wenn man schon selber nichts für andere tut, denen es schlechtgeht, ist es beruhigend, wenn eine Institution existiert, die gleichsam von ihrer Natur her für Nächstenliebe zuständig ist.

Gotteshäuser wie die Notre-Dame und der Stephansdom sind die sichtbaren Zeichen dafür. Sie gehören allen, den Frommen und den Nichtfrommen, den Einheimischen und den Fremden. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 1.5.2019)