Die Rede ist natürlich von Wechat, einer Handy-App, die mit knapp über einer Milliarde Benutzerinnen und Benutzern weltweit tiefe Einsicht in das Privatleben der Menschen hat und deren Reichweite und Einfluss durchaus nicht zu unterschätzen sind.

Ich wache schweißgebadet auf. Diese Paranoia muss endlich aufhören. So schlimm ist es in China wirklich nicht, die Regierung will ja auch nur das Beste für die Bevölkerung, und die ganzen Kameras, Kontrollen und Überwachungen sind ja auch nur zum Vorteil der hier lebenden Menschen, man ist ja selber schuld, wenn man Sicherheit mit Kontrollwahn verwechselt und stichprobenartige Untersuchungen als Verletzung seiner Privatsphäre versteht. Ich glaube, ich habe mich die letzten zwölf Tage wirklich wahnsinnig gemacht mit dem Gedanken, ständig beobachtet zu werden. Wieso soll sich China denn überhaupt für mich interessieren? Bin ich nicht ein kleiner Fisch in Chinas Riesenzoo? Eben. Die ganze Panikmache war doch absoluter Schwachsinn, im Nachhinein muss ich mir eingestehen, dass diese ganzen "kritischen" und "negativen" Berichte über China doch einer komplett willkürlichen Natur zuzuschreiben waren. Ich habe wohl doch zu viel des Wiener Grants im Gepäck gehabt. Herrje, ich schäme mich ja richtig, da wird man von öffentlichen Stellen unterstützt, in so weit entfernte und wunderbar exotische Länder zu reisen – und hat sogar noch eine Plattform, auf der man seine Eindrücke mitteilen kann, und mir fällt nichts Besseres ein, als die ganze Zeit zu keppeln. Das wird sich jetzt ändern.

Der Smog verändert die Sicht auf Dinge

Ich springe auf, zieh mich an und verlasse unsere Unterkunft. Wie so oft kann man in Schanghai nicht weiter als etwa 200 Meter sehen, Nebel und Smog verhängen die Sicht. Das macht mir aber gar nichts aus, ganz im Gegenteil, ich freue mich, dass ich mich dadurch viel mehr auf das konzentrieren kann, was in meiner unmittelbaren Umgebung geschieht. Ich sehe auf einmal das liebliche Lächeln einer alten Dame, die sich in den strahlenden Reflektionen des Lichterspiels des Bunds sonnt, höre das lebensfrohe Lachen von Kindern, die ausgelassen Fangen spielen, und rieche den herrlichen Duft der Schanghaier Straßenstände, deren patriotische Besitzerinnen mit tönenden Stimmen, die sogar durch den Verkehrslärm hindurchdringen, ihre leckeren Speisen mit unfassbarer Hingabe anpreisen. Schanghai enthüllt sich auf den zweiten Blick als paradiesische Metropole des Ostens. Alles, was zuvor negativ aufgefallen ist, ergibt nun einen größeren und gerechteren Sinn.

Spaziergang durch Schanghai.
Foto: Jimmy Brainless

Der Smog hat aber nicht nur eine positive Wirkung auf meine Wahrnehmung. Eine Bekannte von uns erzählt, dass viele Frauen es sehr genießen, Atemschutzmasken zu tragen, da sie sich dadurch das tägliche Schminken in der Früh ersparen können. Außerdem wirkt die Haut durch den Smog viel weißer, was dem ästhetischen Anspruch der Frauen in Asien ebenfalls sehr entgegenkommt.

Ich gehe weiter durch die Straßen und höre den harmonischen Klang von Mah-Jongg-Steinen, die gerade gemischt werden, das zivilisierte Rascheln von Geldscheinen, die sich als Wetteinsätze in Hinterhöfen wichtig machen. In der Metro gibt es neben den Ticketmaschinen auch Orangensaftautomaten, die frisch, wie bei uns im Supermarkt, Orangensaft pressen. Daneben stehen Kabinen, die wir erst als Raucherkammerln missinterpretierten, sie sich dann aber als Karaokeboxen entpuppen. Wo gibt's denn so was sonst? Mit frischgepresstem Orangensaft vor der Arbeit noch geschwind eine Runde Karaoke singen – das nenne ich pure, vitamin-c-haltige und demnach nachhaltig gesunde Freiheit!

Kaufen Sie kein Marihuana über eine App!

Erst dachte ich, Wechat, eine App, sei nur da, um Menschen zu kontrollieren, zu sehen, wo sich wer wann befindet, was man bezahlt und zu welchen Ärzten oder Ärztinnen er oder sie geht und welche Tagesabläufe er oder sie überhaupt hat. Aber eine andere Bekannte erzählte uns, dass eine Freundin aus den USA mal in China bei einem Dealer ein, zwei Gramm Gras gekauft hat und die Ware aus üblicher, selbstverständlich verhängnisvoller Bequemlichkeit via Wechat bezahlt hat. Als der Dealer kurze Zeit später gefasst wurde, ist deswegen auch gleich der ganze Kundenkreis mitaufgeflogen. Die Freundin musste daraufhin aus dem juristisch strengen, aber gerechten China ausreisen und hat bis heute noch Einreiseverbot. Das nennt man konsequentes Respektieren und Vollziehen der chinesischen Gesetze. Das ist Sicherheit. So muss die Justiz, oder?

Ich hoffe, ich wirke nicht brainwashed – das geht nämlich gar nicht –, aber wenn man sich das alles mal genauer anschaut, wird man feststellen, dass Wechat tatsächlich in der Lage ist, Verbrechen aufzuklären, und auch bereit ist, dieses Potenzial zu nutzen. Und das Beste daran ist: Seit 2017 steht in der Datenschutzerklärung, dass nahezu alle Informationen der Wechat-User an die chinesischen Behörden weitergegeben werden. Was das heißt? Schlichtweg, dass dadurch noch mehr Verbrechen aufgeklärt werden können!

Chinesisches Mimikry

An unserem auftrittsfreien Tag fahre ich nach Zhujiajiao, das sogenannte Venedig von Schanghai. Ich finde solche Bezeichnungen immer sehr hilfreich, weil ich dann auch immer weiß, was mich dort erwartet und womit ich es vergleichen kann. Im Venedig von Schanghai trifft man auf eine wesentlich entspanntere Atmosphäre als im Zentrum der Stadt – gut erzogenes Gewässer spielt sich als Begleiterscheinung im Gesamtbild auf und gibt Uferseiten verbindenden Brücken Existenzberechtigung. Menschenmassen genießen die Nähe, die beim Gedränge um die Essensstände entsteht, und Gondeln schaukeln, von Herren mit Hüten am Kopf gerudert, die Kanäle entlang. Ich spaziere, erst die Rialtobrücke von Schanghai besichtigend, dann zum Markusplatz von Schanghai, der mich etwas überlaufen zum Dogenpalast von Schanghai ausweichen lässt. Alles ist genauso, wie man es sich von Venedig erwarten würde, sogar die Tauben sitzen da und nehmen stillschweigend auf, was sich vor ihnen abspielt.

Rialtobrücke von Schanghai.
Foto: Jimmy Brainless

Anschließend möchte ich mich der Fortbewegung wegen in ein Vaporetto von Schanghai setzen, allerdings wird mir von einem Einheimischen aus Schanghai erklärt, dass die ständig in den kleinen Kanälen vom Venedig von Schanghai steckengeblieben sind und schließlich wieder aus dem Venedig von Schanghai entfernt wurden.

Aus sicherer Quelle erfahre ich, dass es für das Venedig von Schanghai äußerst schwierig ist, mit dem Original in Europa mitzuhalten, darum haben sich die Inhaberinnen und Inhaber der Geschäfte entschieden, ihre Geschäfte im Gegensatz zum ursprünglichen Venedig 24 Stunden am Tag offen zu halten. Das Resultat ist allerdings etwas ernüchternder als erwartet: Überall sieht man übermüdete Verkäuferinnen und Verkäufer, die einfach über ihren Waren einschlafen. Was als unglücklich gewertet werden könnte, wird jedoch überraschenderweise als durchaus authentische Nachstellung der italienischen Siesta interpretiert, vor allem europäische Touristinnen und Touristen schwärmen über diese unverhoffte Detailtreue.

Siesta im Venedig von Schanghai.
Foto: Jimmy Brainless

Luftballone verboten

Abends haben wir einen Auftritt in einem österreichischen Lokal namens Zeitgeist. Überhaupt habe ich ständig das Gefühl, in Wien zu sein, aus dem Augenwinkel glaube ich immer eine Straßenbahn zu erkennen, wenn ein Oberleitungsbus vor dem Lokal hält. Ein wirklich gut Deutsch sprechender Chinese erzählt uns, dass man in China für Elektroautos gratis Kennzeichen beantragen kann. Möchte man ein Kennzeichen für ein benzin- oder dieselbetriebenes Auto beantragen, muss man umgerechnet bis zu 15.000 Euro bezahlen, was oft den Gesamtwert des Autos um ein Vielfaches überschreitet. Man kann sagen, was man will, aber die chinesische Regierung tut schon echt viel, um Umweltprobleme mit integrativen Maßnahmen wieder in den Griff zu bekommen. Überhaupt fällt äußerst positiv auf, dass es in China fast nur mehr Elektromopeds zu geben scheint.

Am nächsten Tag sind wir bei der Österreich-Bibliothek eingeladen, dort spielen wir einige Stücke und präsentieren mit den Damen des OeADs Mini-Dramen der Gewinnerinnen und Gewinner eines Schreibwettbewerbes. Im Anschluss wird uns erzählt, dass die ganzen Sicherheitskontrollen an den U-Bahn-Stationen in Schanghai ein Artefakt der Expo 2010 seien, seitdem stehen diese Überwachungsgeräte und das dazugehörige Personal zwar noch da, interessieren sich aber tatsächlich relativ wenig für die mitgenommenen Inhalte der Metropassagiere. Man könne anhand der Körperhaltung der Beamtinnen und Beamten abschätzen, ob man seine Tasche wirklich durchleuchten lassen muss oder ob man einfach ohne Probleme durchgehen kann. Denn: Prinzipiell müssen die Menschen im Alltag ja alles Mögliche mit der U-Bahn transportieren. Wenn jemand zum Beispiel ein neues Küchenmesser kauft, kann man ihm nicht einfach verbieten, damit U-Bahn zu fahren. Das Einzige, was wirklich verboten ist, sind Luftballone.

Auftritt in der Österreich-Bibliothek.
Foto: ÖGK Shanghai

Und tatsächlich, als wir abends nach Hause fahren, lassen wir kein einziges Mal unsere Rucksäcke und den Gitarrenkoffer durchleuchten, keiner von den Beamtinnen und Beamten protestiert. Und auch am nächsten Tag, als wir zum Flughafen fahren, um nach Seoul weiterzufliegen, gehen wir einfach durch die Absperrungen, stempeln uns selbst den Ausreisestempel in den Pass und steigen, ohne die Boardingkarte herzuzeigen, in den Flieger. Keinen interessiert's. (Jimmy Brainless, Elias Hirschl, 29.4.2019)