Bei der 2005 eingeweihten Rekonstruktion der Frauenkirche in Dresden wurden originale und kopierte Stellen erkennbar gemacht.

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Vergangenen Herbst wurde die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt eröffnet.

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Um Mitternacht standen immer noch tausende Menschen an den Seine-Ufern, auf der Île Saint-Louis und auf der zum Bersten gefüllten Brücke Pont de Sully und blickten betroffen und im Trauergesang vereint auf die lodernden Flammen von Notre-Dame. Das Feuer war noch nicht vollständig gelöscht, schon hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron kurz nach seinem Eintreffen vor Ort versichert, Teile der zerstörten Kathedrale wieder zu rekonstruieren. "Das Schlimmste ist bei diesem Brand verhindert worden, denn die Fassade und die beiden Haupttürme sind nicht zusammengestürzt", so Macron. "Wir werden Notre-Dame wieder aufbauen. Es ist das Epizentrum unseres Lebens."

ORF-Korrespondent Christophe Kohl spricht über die mögliche Ursache des Feuers in Notre-Dame sowie die Pläne für den Wiederaufbau.
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Verwunderlich ist, dass Macron diese Entscheidung im Alleingang trifft – und nicht erst ein Expertengremium einberuft, um über die baulich-technischen Möglichkeiten im Umgang mit der Unesco-geschützten Brandruine zu beraten. Wirft man jedoch einen Blick auf die europäische Geschichte, so ist die Rekonstruktion in der Tat ein probates, gut geeignetes Mittel, das vor allem bei historisch wertvollen sowie städtebaulich und gesellschaftlich identitätsstiftenden Bauwerken angewandt wird: Kirchen, Schlösser, Burgen wurden im Laufe der Zeit vielfach rekonstruiert, um die durch Krieg und Naturkatastrophen aufgerissenen Wunden wieder zu schließen.

Campanile bis Bauhaus

Eine der bedeutendsten, damals schon weltweit diskutierten Rekonstruktionen ist jene des im Juli 1902 eingestürzten Campanile in Venedig. Das Unglück, das sich infolge von Erdbeben, Blitzeinschlägen und diversen Mauerwerkssetzungen ereignete, rief große Bestürzung und Trauer in der ganzen Welt hervor. Der Stadtrat von Venedig beschloss bereits am Abend des Turmeinsturzes einstimmig, den Campanile wiederaufzubauen, wie und wo er gewesen war: "Com’era e dov’era."

Weitere bedeutende Rekonstruktionen sind etwa das im Krieg ausgebrannte und in großen Teilen zerstörte Bauhausgebäude in Dessau, das ebenfalls 1945 zerstörte Potsdamer Stadtschoss sowie die im Zweiten Weltkrieg fast vollständig bombardierte Warschauer Altstadt, die unmittelbar nach dem Krieg rekonstruiert wurde. Aufgrund der technischen und handwerklichen "Meisterleistung" (O-Ton Unesco), die hier getätigt wurde, ist die Altstadt von Warschau bis heute die weltweit einzige Rekonstruktion dieser Größe, die als Unesco-Weltkulturerbe gelistet ist.

Zuletzt Kritik an Rekonstruktionen

Die berühmtesten Wiederaufbauten in jüngster Zeit sind der im Jugoslawienkrieg zerstörte Stari Most in Mostar (Bosnien-Herzegowina), die orthodoxe Christi-Erlöser-Kirche in Moskau, das Teatro La Fenice in Venedig, das nach einem Brand in achtjähriger Bauzeit rekonstruiert und 2003 in Betrieb genommen wurde, sowie die 2005 eingeweihte Rekonstruktion der Frauenkirche in Dresden, die mit ihren hellen und dunklen, mosaikartig verlegten Steinquadern in der Fassade die Originalbausubstanz und Rekonstruktion leicht ablesbar macht.

In den letzten Jahren hat die Kritik an der Methode der Rekonstruktion in der Bevölkerung massiv zugenommen. Ausschlaggebend dafür sind nicht zuletzt das Berliner Stadtschloss, das Ende dieses Jahres nach heftigen Protesten eröffnet werden soll, und die kürzlich fertiggestellte Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt (Dom-Römer-Projekt), die 35, zum Teil historisch nachempfundene Häuser, sogenannte "schöpferische Neubauten" auf einer Fläche von rund 7.000 Quadratmetern umfasst.

Ganz genaue Pläne

"Natürlich gibt es Alternativen zur Rekonstruktion wie etwa moderne, zeitgenössische Ergänzungen und Interpretationen", sagt der Wiener Landeskonservator Friedrich Dahm auf Anfrage des STANDARD, "aber ich kann Ihnen jetzt schon prophezeien, dass das Projekt Notre-Dame in eine Rekonstruktion münden wird. Erstens ist dieses Bauwerk ein Herzstück für das gesamte Land, und zweitens liegen hier so genaue Pläne vor, dass man Notre-Dame wahrscheinlich auf den Zehntel Millimeter genau wiedererrichten könnte. Und das wird man auch tun. Ich halte diesen Weg für angemessen."

Grundlage dafür könnte beispielsweise jene millimetergenaue Laservermessung sein, die Andrew Tallon, Architekturhistoriker am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, 2015 erstellte. Dabei wurde die 850 Jahre alte gotische Kathedrale nicht nur auf Basis ihrer ursprünglichen, noch vorhandenen Baupläne, sondern "verformungskonform" ausgemessen. Der denkmalpflegerische Fachbegriff berücksichtigt dabei alle Setzungen, Mauerwerksverformungen und baulichen Abweichungen, die in all den Jahrhunderten entstanden sind. Die digitale 1:1-Kopie könnte nun wertvolle Dienste leisten.

Heimische Rekonstruktionen

Auch österreichische Bauwerke wie etwa die Staatsoper, der Stephansdom oder die Hofburg nach dem Brand der Redoutensäle 1992 wurden rekonstruiert. "Der Dachstuhl des Stephansdoms wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Stahl wiederaufgebaut, was finanzielle, technische und konstruktive Gründe hatte, weil man dadurch resistenter gegen Feuer ist und zudem viel Gewicht einsparen kann", erklärt Dahm. "Damit konnte das äußere Erscheinungsbild gewahrt werden." Ob das Dach von Notre-Dame originalgetreu in Holz oder doch in Stahl rekonstruiert werde, so Dahm, "wird eine Frage der staatlich-denkmalpflegerischen Kultur und Geisteshaltung sein".

Wichtig sei, Bauteile und Dekorelemente aus dem Brandschutt zu bergen und ganz genau zu katalogisieren. Auf Basis dieser Bauaufnahme sei es möglich, Bauteile und Dekorelemente originalgetreu zu rekonstruieren. Dabei ist nicht nur auf die Materialwahl zu achten, sondern auch auf den Einsatz der Erzeugung. "An Handarbeit wird kein Weg vorbeiführen", so Dahm. Doch genau das könnte, wie Wolfgang Zehetner, Dombaumeister in Wien, in einem ORF-Interview erklärt, zur Schwierigkeit werden: "Die Unterlagen sind da, aber das Handwerk ist heute nicht mehr in dieser Qualität und in dem Ausmaß vorhanden".

Präventive Maßnahmen gefragt

In jedem Falle, meint Sabine Haag, Präsidentin der Österreichischen Unesco-Kommission, sei auf eine möglichst sensible Rekonstruktion der zerstörten Teile zu achten. "Der Wiederaufbau darf keine Schnellschussaktion sein, sondern muss – auf die neuesten Technologien zurückgreifend – nationale und internationale Expertise einbeziehen", so Haag. Und betont: "Die Brandkatastrophe erinnert daran, dass wir auch im 21. Jahrhundert nicht vor Ereignissen gefeit sind, die den Verlust jahrhundertealter Kulturschätze zur Folge haben."

Mit den nötigen technischen Mitteln wäre die Katastrophe vielleicht zu verhindern, zumindest zu schmälern gewesen, wie der Wiener Landeskonservator erklärt: "Bei einem Brand zählen Sekunden und Minuten, daher plädiere ich für präventive Maßnahmen", so Dahm. "Das Schloss Schönbrunn beispielsweise ist in allen Räumen mit Brandmeldern ausgestattet. Zudem liegen genaue Lösch- und Evakuierungspläne für bedeutende Kunstwerke vor. Innerhalb weniger Minuten können hier wichtige Rettungsmaßnahmen getroffen werden."

Das Feuer von Notre-Dame ist unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 18.30 Uhr und 18.50 Uhr ausgebrochen. Erst um 19.07 Uhr wurde der Brandrauch von einem Reuters-Journalisten aus der Entfernung entdeckt und der Feuerwehr gemeldet. Der Rest ist Geschichte. (Wojciech Czaja aus Paris, 16.4.2019)