Der an einer degenerativen Muskelerkrankung leidende Norweger Mats Steen erschien seinen Eltern zunehmend sozial isoliert. Nach seinem Tod stellte sich heraus, dass er ein erfülltes Leben mit zahlreichen realen Freunden im MMORPG "World of Warcraft" geführt hatte.

Foto: Blizzard

Den Anfang nahm die Diskussion im deutschen Sprachraum mit dem Amoklauf von Erfurt. Ein ehemaliger Schüler eines Gymnasiums suchte am letzten Tag der Abiturprüfungen (Matura) seine Schule auf und erschoss insgesamt 16 Menschen.

Trotz zahlreicher Aspekte, die in diesem Fall eine Rolle gespielt haben könnten, rückte sehr schnell ein Detail aus dem Leben des Täters in den Vordergrund. Er soll sehr gerne den Multiplayer-Shooter "Counter-Strike" gespielt haben. Der Begriff "Killerspiele" sollte die politische Diskussion danach für Jahre begleiten, und zahlreiche Kommentatoren ergingen sich in der Frage, ob Spiele mit Gewaltinhalten ursächlich für einen solchen Amoklauf seien.

"Spiele machen gewalttätig" ist allerdings nur einer von diversen Mythen über Videogames, die immer noch recht weit verbreitet erscheinen. Der Psychologe Pete Etchells hat für den "Guardian" die populärsten Vorurteile gesammelt.

"Games machen gewalttätig"

Dass Games gewalttätiges Verhalten auslösen, wurde zwar oft behauptet, wissenschaftlich erwiesen ist es allerdings nicht. Der Zusammenhang zwischen Videospielen und Gewalt ist laut neueren Forschungen höchstens schwach ausgeprägt.

Kürzlich beobachteten Forscher Probanden, die über zwei Monate täglich ausgiebig "GTA 5", die "Sims 3" oder kein Spiel gespielt hatten. In Fragekatalogen und Verhaltenstests konnten sie keine signifikanten Auswirkungen auf ihr Aggessionslevel, ihre Geschlechtswahrnehmung und ihre psychische Gesundheit erkennen. Auch eine britische Untersuchung unter 2.000 Teenagern fand keinen Zusammenhang.

"Games machen süchtig"

Seit letztem Sommer ist Videospielsucht im Diagnostik-Standardwerk ICD inkludiert. Ein Schritt, der unter Wissenschaftern jedoch für geteilte Meinungen gesorgt hat. Etchells etwa hält diese Entscheidung für vorschnell, da Videospiele sich nicht einfach mit herkömmlichen Süchten vergleichen lassen. Als ein Kriterium gilt etwa, dass Betroffene fast ausschließlich spielen oder andere Hobbys komplett fallenlassen. Das muss allerdings nicht unbedingt "schädigendes" Verhalten sein, da Games von sich aus nicht schädlich sind. Zudem scheint Gaming-Sucht keine langwierige Erscheinung zu sein. Nach einer sechsmonatigen Untersuchung von Spielern, die die ICD-Kriterien erfüllten, fiel am Ende kein einziger mehr in dieses Raster.

Allerdings: Es gibt durchaus problematische Aspekte, die in Sachen Suchtverhalten relevant sein könnten. Laut ersten Untersuchungen könnten Games, die sich über Lootboxen finanzieren, in den Problembereich klassischer Spielsucht fallen, wie man sie seit dem Aufkommen von Kasinos und Wettbüros kennt.

"Games führen zu sozialer Isolation"

Dass es auf den ersten Blick problematisch wirken kann, wenn jemand stundenlang vor seinem Rechner sitzt und spielt, mag verständlich sein. Im Zeitalter von Breitbandinternet und Online-Games ist das aber nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen. Spiele an sich, egal ob digital oder analog, wurden ursprünglich als soziale Erfahrung gestaltet, und dementsprechend bieten Multiplayer-Games sogar neue Wege, Menschen zusammenzubringen.

Etchells zieht als Fallbeispiel etwa den Norweger Mats Steen heran. Er wurde mit einer unheilbaren degenerativen Muskelerkrankung geboren und erschien seinen Eltern in seinen letzten Lebensjahren zusehends sozial isoliert zu sein, da er seine Tage fast nur noch vor dem Computer verbrachte. Nach seinem Tod 2014 ergab sich für seine Eltern aber schnell ein anderes Bild. Im Online-Rollenspiel "World of Warcraft" hatte er zahlreiche Freunde gefunden, die ihm dabei halfen, seinen körperlichen Verfall auch einmal vergessen zu können. Seine Mitspieler legten auch zusammen, um nach Norwegen zu fliegen und an seinem Begräbnis teilzunehmen.

"Games sind Zeitverschwendung"

Man möge doch "besser rausgehen" oder "etwas Sinnvolles tun" – gut gemeinte Ratschläge, die wohl viele Videospielfreunde in ihren jüngeren Jahren erhalten haben. Doch die Annahme, dass Games einfach nur verschwendete Zeit wären, unterspielt ihr kreatives Potenzial. Sie können emotionale Verknüpfungen schaffen, die andere Kunstformen nicht bieten. Ein Buch kann den Leser etwa traurig machen, ein gut gemachtes Spiel kann hingegen im Spieler Reue für die Taten seiner Spielfigur auslösen. Und sie erlauben es uns, von zu Hause aus fantastische Abenteuer zu erleben und große Helden zu werden.

"Games sind bloß Unterhaltung"

Es stimmt, das Games oberflächlich vor allem ein Zeitvertreib sind – wie viele andere Hobbys aber auch. Aber sie sind auch ein Produkt der Wissenschaft und können ihrerseits auch ein wichtiges Werkzeug für Forschungen sein. Als Beispiel nennt Etchells das Mobile Game "Sea Hero Quest". Hier müssen Spieler sich eine Karte einprägen und dann mit ihrem Forschungsschiff Bojen in einer bestimmten Reihenfolge abfahren.

Ihre Fahrten landen auch im Datenbestand von britischen Wissenschaftern, die Unterschiede in der räumlichen Orientierungsfähigkeit je nach Herkunft und Alter erforschen. Damit lassen sich auch Krankheiten wie Alzheimer besser verstehen und eines Tages vielleicht auch besser behandeln. (red, 22.04.2019)