Inna Schewtschenko (28) leitet die feministische Gruppe Femen, die durch provokante Statements auf nackten Frauenoberkörpern bekannt geworden ist. 2012 fällte die gebürtige Ukrainerin aus Protest gegen die Kirche ein großes Holzkreuz in Kiew und musste daraufhin fliehen. Schewtschenko erhielt politisches Asyl in Frankreich und baute in Paris ein Trainingscamp für Femen-Aktivistinnen auf. Im Interview spricht sie über die Unterdrückung durch Religion, darüber, warum der Hijab sexistisch ist und sie gerne extrem ist.

DER STANDARD

STANDARD: Glauben Sie an etwas?

Schewtschenko: Ja, das tue ich! Ich denke, unter meinen Überzeugungen sind die schönsten, die es gibt: Ich glaube an die Gleichberechtigung und die Würde jedes Menschen, ich glaube an die Menschenrechte, und ich glaube daran, dass Menschen an sich glauben sollten. Deshalb glaube ich auch an mich!

STANDARD: Wurden Sie religiös erzogen?

Schewtschenko: Ich bin in einer religiösen Familie und in einer religiösen Gesellschaft aufgewachsen. Ich habe jeden Abend vor dem Schlafengehen gebetet und Gott viele Fragen gestellt, bis ich 17 oder 18 Jahre alt war. In meinem Land gab es keine Kultur der Diskussion und des Gesprächs über Religion, es wird als Dogma aufgefasst. Ich denke, dass das ein Ziel jeder religiösen Institution ist. Religiöse Ideen sollen nicht hinterfragt, sondern als Dogma aufgefasst werden. Als ich dann zum ersten Mal feministische Ideen kennengelernt habe, begann ich alles zu hinterfragen: meinen eigenen Glauben, meine Ansichten über die Gesellschaft, die Welt, mich, aber auch Gott, an den ich geglaubt habe.

STANDARD: Welche Probleme sind Ihnen in den großen Religionen begegnet?

Schewtschenko: Monotheistische Religionen haben historisch gesehen viel zur Unterdrückung von Frauen beigetragen und sind das erfolgreichste Instrument, das jemals vom Patriarchat geschaffen wurde. Der Fakt, dass in drei monotheistischen Religionen Gott männlich ist, macht Männer auch im echten Leben gottähnlich. Religiöse Führer sind männlich, und Frauen wurden trotz der vielen Versuche, die Führung in religiösen Institutionen zu übernehmen, daran gehindert, verbannt oder sogar aus der Kirche ausgeschlossen. Das zeigt, dass religiöse Institutionen und religiöse Ideen Männer begünstigen. Die wollen nicht, dass Frauen Führungsrollen in diesen Institutionen übernehmen, die wollen keine Gleichberechtigung. Ich denke, eines der größten Probleme ist, dass bei religiösen Themen immer Stille herrscht, weil wir es für ein sensibles Thema halten. Ich denke, wenn etwas als nicht diskutierbar betrachtet wird, zeigt das bereits, dass es ein Problem gibt, das wir angehen sollten. Wir können den Kampf für Frauenrechte nicht weiterführen, wenn wir die Diskriminierung und den Sexismus ignorieren, die noch immer Teil dieser Religionen sind.

STANDARD: Denken Sie, es ist möglich, gleichzeitig religiös und Feministin zu sein?

Schewtschenko: Ich denke, es ist möglich, ein gläubiger Mensch zu sein und gleichzeitig Feministin, aber ich denke nicht, dass Feminismus religiös sein kann. Es wird gerade sehr viel über muslimischen Feminismus und christlichen Feminismus gesprochen. Ich denke nicht, dass man auf die Frauenrechte durch ein Prisma aus monotheistischen, patriarchalen Dogmen schauen kann – wo die Frau immer dem Mann unterwürfig oder auch nur die Hälfte wert ist.

STANDARD: Sie haben den Hijab mehrmals in den sozialen Medien kritisiert. Warum denken Sie, dass eine Frau mit Hijab keine Feministin sein kann?

Schewtschenko: Die Idee hinter religiösen Bekleidungsvorschriften ist nicht nur, dass die Frau ein sexuelles Objekt ist, sondern es sind Männer auch als unkontrollierbare Wahnsinnige, als Sexbesessene zu betrachten, die sich vor einer Frau nicht kontrollieren können. Ich denke, dass das eine sehr herabwürdigende Idee ist, für Frauen wie für Männer. Ich denke auch, dass Frauen im öffentlichen Raum nicht gekennzeichnet werden sollten, während Männer sich in ihrem Körper wohlfühlen können, sich anziehen und sich verhalten können, wie sie wollen. Manche Frauen sagen: "Mein Hijab ist mein Empowerment und meine Befreiung." Ich glaube, dass jede Frau selbst entscheiden muss, was sie trägt, ob es jetzt Mini-Shorts oder Hijab ist. Ich denke aber nicht, dass man feministische Sprache auf sexistische Kleidung und eine diskriminierende Bekleidungsvorschrift anwenden kann. Diese Frauen nehmen natürlich feministische Argumente an, trotzdem macht das den Hijab nicht weniger sexistisch oder patriarchalisch.

STANDARD: Haben Sie zu Beginn Ihrer Proteste in der Ukraine gedacht, dass Leute Ihnen deshalb schaden wollen?

Schewtschenko: Leider hatte mein feministisches Engagement immer mit Gewalt und Angriffen zu tun. Ich bin 28 Jahre alt und wurde in zehn Jahren Aktivismus dreimal beinahe getötet. Ich denke nicht, dass das normal ist, was auch immer man über meine Vorgehensweise, über den Feminismus oder über meine Meinung denkt. Ich denke, der Wunsch, jemanden zu töten, nur weil man nicht mit ihm übereinstimmt, ist falsch. Ich denke, das ist auch einer der Gründe, warum ich weitermache und warum ich meinen Kampf auf verschiedene Arten weiterführe. Für Frauenrechte zu kämpfen ist gefährlich, aber eine Frau zu sein ist generell gefährlich. Frauen werden immer noch verkauft, missbraucht und als Gebrauchsgut betrachtet. Wenn wir uns die Statistiken anschauen, ist häusliche Gewalt auch in Europa ein sehr großes Thema. Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind – von ihren Partnern und Ex-Partnern. Auch das kürzliche Erscheinen rechtspopulistischer Gruppierungen in Europa gefährdet den Kampf von Frauen zusätzlich. Ich denke, es ist wirklich an der Zeit, dass jede von uns – unabhängig davon, was wir von bestimmten feministischen Gruppierungen oder dem Feminismus generell halten – für sich selbst einsteht und Solidarität zeigt.

STANDARD: Manche Leute bezeichnen Sie als extrem. Was entgegnen Sie diesen Leuten?

Schewtschenko: Wenn die Idee, gleichberechtigt mit Männern zu sein, extrem ist, dann bin ich damit einverstanden, extrem zu sein. Wenn die Idee, dass ich als Person ein Anrecht auf Würde, Freiheit und Wahlrecht habe, extrem ist, dann ist es für mich okay, extrem zu sein. Wenn die Idee, dass Frauen nicht dafür getötet werden sollen, wer sie sind, extrem ist, dann bin ich damit einverstanden, extrem zu sein. Wenn die Idee von Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern extrem ist, dann ist es okay, extrem zu sein. Wenn es extrem ist, meinen Körper als politisches und nicht als sexuelles Werkzeug zu benutzen, dann bin ich damit einverstanden. Dann will ich extrem sein. Dann bin ich extrem. (Annemarie Andre, 16.4.2019)