Stürmische Zeiten für das Vereinigte Königreich. Auch die neuen Vorschläge zu möglichen Brexit-Terminen trugen vor dem Wochenende nicht gerade zur Beruhigung bei.

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Neue Wendung im Brexit-Poker zwischen Brüssel und London: Die britische Premierministerin Theresa May brachte am Freitag erneut den 30. Juni als Termin für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ins Spiel. In einem dreiseitigen Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk machte May außerdem deutlich, dass sie am ausgehandelten Austrittsvertrag festhält und diesen so bald wie möglicht erneut dem Unterhaus vorlegen will: Alle Seiten müssten "im nationalen Interesse kompromissbereit sein".


Die Labour-Partei, der May am Dienstag zum ersten Mal seit dem Referendum im Juni 2016 substanzielle Gespräche angeboten hatte, verlangte am Freitag erneut eine "echte Veränderung oder einen Kompromiss" vonseiten der Premierministerin. In die Überlegungen über die Verlängerung der Austrittsfrist hatte May die Opposition offenbar nicht einbezogen.

Ein weiterer Aufschub des EU-Austritts Großbritanniens sei aus derzeitiger Sicht wahrscheinlich, berichtet ORF-Korrespondent Peter Fritz.
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Aufseiten der EU-Institutionen und der Regierungen der Mitgliedstaaten fielen die Reaktionen unterschiedlich aus: schwankend zwischen Zustimmung und Skepsis. Ein Sprecher der EU-Kommission sagte, es sei ganz Sache der Staats- und Regierungschefs, darüber beim Sondergipfel nächste Woche in Brüssel zu entscheiden.

"Flextension" im Gespräch

Ratspräsident Tusk, der sich bereits vor zehn Tagen im EU-Parlament in Straßburg für eine Verschiebung des Austrittstermins um ein Jahr ausgesprochen hatte, begrüßte den Vorschlag von May. Er werde beim Gipfel eine "flexible" Ausdehnung der Frist um zwölf Monate bis März 2020 vorschlagen – im charmanten Brüsseler Jargon wird das bereits "flextension" (aus flexible und extension) genannt. Sollten die Briten es früher schaffen, den Austrittsvertrag zu ratifizieren, könnte der Brexit auch vorher umgesetzt werden.

Ganz anders die Position Frankreichs: Es sei "verfrüht", über eine Verlängerung zu reden, Tusks Erklärung "ungeschickte Kommentare eines EU-Beamten". London habe noch keinen Alternativplan vorgelegt, der Voraussetzung zur Verlängerung wäre, ließ Präsident Emmanuel Macron wissen. Beim informellen EU-Finanzministertreffen in Bukarest bekräftigte Finanzminister Bruno Le Maire, es werde keine Verlängerung geben, "wenn wir nicht verstehen, wofür". Ähnlich sieht das der niederländische Premier Mark Rutte. Er bezeichnete Mays Brief allein als "nicht genug", um eine Fristverlängerung zu erlauben. "Der Plan war, dass die Briten erklären, was sie von der EU wollen", fügte der Regierungschef hinzu. Mays Brief "beantwortet diese Bitte nicht".

Kanzler Kurz skeptisch

In Deutschland hingegen gibt es die Tendenz, den Briten mehr Zeit einzuräumen, wenn dies nötig sei. Auch Luxemburgs Finanzminister Pierre Gramegna betonte, dass sein Land bereit wäre, noch zuzuwarten. Skeptischer reagierte Bundeskanzler Sebastian Kurz: "Derzeit" gebe es keinen Grund für eine Fristverlängerung.

In ihrem Brief an den EU-Ratspräsidenten hatte May auch mehrere Botschaften an die politischen Gegner in der Heimat gesandt. Den konservativen Brexit-Ultras sowie der nordirischen Unionistenpartei DUP schrieb sie ins Stammbuch, der mit Brüssel vereinbarte Austrittsvertrag müsse akzeptiert werden. Sämtliche Diskussionen über das zukünftige Verhältnis könnten lediglich Änderungen der politischen Zukunftserklärung zur Folge haben. Dazu haben die verbleibenden 27 EU-Mitglieder stets Bereitschaft erkennen lassen.

An die Labour-Opposition waren jene Passagen gerichtet, die den Weg zum ehestmöglichen ordentlichen Austritt skizzieren. Entweder will May sich mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn auf einen gemeinsamen Antrag ans Parlament einigen oder aber dem Unterhaus, wiederum mit dem Einverständnis der Sozialdemokraten, "eine kleine Anzahl klarer Optionen" vorlegen. Diesmal hätte eine Mehrheitsentscheidung der Abgeordneten, anders als die beiden bisherigen Abstimmungsrunden, bindende Wirkung.

Stolperstein EU-Wahl

Mit ihrem erneut vorgetragenen Wunsch nach Verlängerung bis 30. Juni unterstrich May, wie wenig sie von einer Teilnahme ihres Landes an den Europawahlen hält. Zwar haben die britischen Behörden mit den Vorbereitungen für den Urnengang begonnen, der im Vereinigten Königreich am 23. Mai steigen würde. Spätestens am kommenden Freitag (12. April) müsste die formelle Entscheidung fallen. Die Europawahl auf der britischen Insel, in Nordirland und Gibraltar sei aber "im Interesse weder des Vereinigten Königreiches noch der EU", schrieb May.

Dass bei den großen Parteien "null Appetit" auf den Wahlkampf um Europa besteht, wie es Außenminister Jeremy Hunt ausdrückt, dürfte nicht zuletzt mit den wenig verheißungsvollen Umfragen zu tun haben. Dem Meinungsforscher Yougov zufolge würden Tories (32 Prozent) und Labour (31) diesmal lediglich 63 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen; bei der Unterhauswahl 2017 hatten sich noch 82 Prozent für eine der beiden Parteien entschieden. Profiteure wären Yougov zufolge die proeuropäischen Liberaldemokraten (12 Prozent), vor allem aber die nationalistische Ukip (7) sowie die neue Brexit-Partei (5) des früheren Ukip-Chefs Nigel Farage. (Sebastian Borger aus London Thomas Mayer aus Bukarest, 5.4.2019)