Liest bei "Literatur und Wein": Dzevad Karahasan.

Das bosnische Duvno ist von Geschichten in Besitz genommen. Die Männer in den Cafés tragen sie in immer denselben Worten vor, seit 20 Jahren am selben Tisch auf die gleiche Weise. Nur der alte Karlo Brzohod, der nach dem Tod seiner Frau allein außerhalb der Stadt lebt, hat keine Geschichte. Bis er sich eines Tages genötigt sieht, eine vorzutragen, "albern und total erfunden".

Die Menschen seien im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler, weiß Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und problematisiert diese Beobachtung. Der wohl bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Bosniens (und seit Jahren österreichische Staatsbürger) Dzevad Karahasan treibt sie weiter, indem er seine Geschichten zugleich ausschweifen lässt und fein ironisiert oder leicht ins Mystische führt, zugleich in Zusammenhänge stellt und in Schwebe hält.

Fünf Geschichten

Sein Prosaband Ein Haus für die Müden besteht aus fünf Geschichten, die scheinbar unabhängig voneinander in Bosnien spielen, von 1914 bis in unsere Gegenwart, somit Etappen des Übergangs von einer alten zu einer neuen Welt, von teils archaischen Zuständen in moderne Zeiten. Vor diesem Hintergrund agieren und fühlen, reden und sinnieren Karahasans Figuren; es sind Alte, Außenstehende, Einsame, Müde. "Am Morgen waren ihm die Augen aufgegangen, wie verloren, hilflos und überflüssig er war", heißt es über Juso in Feuergeburt.

Der Anfang ist exemplarisch für das Erzählen, für Karahasans Prosa. Der narrative Weg der fünf Geschichten beginnt urban in Sarajevo, um in Randbezirke und ins Ländliche zu gelangen. Der Bund der geheimen Briefträger setzt mit Oberthemen ein: mit der Bedeutsamkeit von Nachrichten und mit der Frage, inwiefern die Gegenwart ein Produkt der Vergangenheit sei. In den ersten Kriegsmonaten 1914 stellt sich im Laufe einiger Gespräche in der bürgerlichen Gesellschaft heraus, dass manche Herren Briefe mit "astronomischer" Verspätung erhielten.

Dem sucht ein Herausgeber auf den Grund zu gehen und stößt auf eine Ursache in Zeitumständen, deren moderne Errungenschaft ein ironischer Unterton anzweifelt: "Der systematische Einsatz von Kampfgiften, Panzern, Flugzeugen und Unterseebooten als unbestreitbare Beweise des wissenschaftlichen Fortschritts." Am Ende bleibt das Wissen, dass Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Ebendies geschieht in Feuergeburt, wo Juso, der seinen Sohn verjagt hat und doch dessen Wiederkehr herbeisehnt, den Schilderungen der Männer im Café zuhört. "Die ganze Welt hebt ab", Juso versteht sie immer weniger, sich selbst empfindet er kaum noch als Ganzheit – umso mehr beschäftigen ihn das Johannisfeuer und Zauberwesen.

Dies spielt zur namentlich nicht genannten Tito-Zeit, deren Dialektik Juso gleichsam als Ironie erscheint: Die Menschen sagen "das Gegenteil von dem, was sie denken, und machen das Gegenteil von dem, was sich gehört". Die neue Macht scheißt buchstäblich auf Jusos Fantasien: "Statt der Feen sah er (...) hinter ein paar Sträuchern drei Soldaten mit nackten Hintern über einer ziemlich großen Grube hocken."

Eine Welt wankt

Die Normen geraten in der folgenden Geschichte ins Wanken. Die Kreise werden enger, die Ordnung der Wiederholung ist gestört. Die Welt ist auch Karlo Brzohod in Aufzählung von Wundern zersplittert, von Wundern, die man auf Reisen zu erleben vermag, hört er erzählen, und es mutet komisch an, dass es ausgerechnet um Bagdad und Belgien geht.

In Das Abheben der Gleise schreibt eine Mutter an ihren fortgegangenen Sohn, alle Briefe kommen nicht weit. Sie lebt im tragischen Schweigen eines alten Freundes an der Bahnlinie, die die Moderne brachte und nun abgebaut wird. Den Band beschließen ein merkwürdiges Begräbnis und eine Rückkehr nach Duvno, Karahasans Geburtsstadt, und in ein Haus, das irreale Züge annimmt.

Wie die erste Geschichte im Kapitel "Argumentum" anführt, bilden die narrativen Fäden ein feines Netz. Unverkennbar, nur diesmal stärker im Ländlichen angesiedelt, trägt der eindringliche Karahasan-Ton die Prosa, dialogisch und dialektisch, dazu atemberaubende Schilderungen wie jene der Sonne im Wipfel einer Kiefer oder der Dämmerung.

Faszinierende Prosa

Die Figuren schweifen in Reden und Reflexionen aus, versteigen sich in Gedankenserpentinen, nicht ohne nüchternen Widerspruch. Die Gespräche würden uns veranlassen, "aus dem, wo wir sind, in das, wo wir gern sein möchten, umzuziehen", sodass sie "unsere Welt durcheinanderbringen".

So erzählt Ein Haus für die Müden von Einsamkeit und Realitätsskepsis, von Selbstverständlichkeiten und Unverständnis, von schwieriger Liebe und nahem Tod, von der Entfernung zwischen Menschen und davon, wie sie Gefangene früherer Worte oder des Schweigens sein können.

Dzevad Karahasans faszinierende Prosa führt in tiefe Provinzen des Menschen, seine Sprachkunst vermag die Vielschichtigkeit der Existenz anschaulich vor Augen zu führen. Das Erzählen bietet uns jedenfalls ein Mittel gegen die Vereinsamung. (Klaus Zeyringer, 6.4.2019)