Etwa 2000 Jahre lang war der Aderlass eine der gängigsten medizinischen Behandlungsmethoden. Bereits in der Antike dachten die weisen Eminenzen, den Menschen von ungesunden Säften befreien zu müssen. Auch Hildegard von Bingen pries ihn an, um den Körper von schlechtem Blut zu reinigen, das durch falsche Ernährung, Stress oder Ängste entsteht. Ihre Empfehlung: Bei abnehmendem Mond solle man dem Patienten "fauliges und zersetztes Blut" abzapfen.

Ohne Herz geht nichts, sagt auch Historiker Jakob Lehne. Sein Arbeitsplatz ist das Josephinum.
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Doch spätestens mit der Entdeckung des Blutkreislaufs im 17. Jahrhundert hätte der Eingriff sein Ende finden müssen. Seit damals war klar, dass sich schlechtes Blut nicht irgendwo im Körper staut. Viele Ärzte praktizierten den Unsinn dennoch unverdrossen weiter, auch der erste US-Präsident George Washington wurde damit im Jahr 1799 zu Tode kuriert.

Nachweise für die Wirksamkeit

Es sollte bis 1972 dauern, die vorherrschende Dominanz der ärztlichen Eminenzen zu schmälern: Der britische Epidemiologe Archie Cochrane veröffentlichte sein Buch "Effectiveness and Efficiency – Random Reflections on Health Services".

Darin kritisierte er, dass jeder Arzt tun und lassen konnte, was er für richtig hält. Er prangerte die mangelnde Wissenschaftlichkeit der medizinischen Praxis an und verlangte Nachweise für die Wirksamkeit von Therapien.

Randomisiert-kontrolliert

Sein wichtigstes Handwerkszeug: Randomisiert-kontrollierte Studien, in der jede Behandlungsmethode zumindest gegen ein Placebo antreten sollte. Fast 20 Jahre später entwickelte sich die evidenzbasierte Medizin (EbM) zu einer globalen Bewegung, 1993 wurde in London die Cochrane Collaboration, ein weltweites Netzwerk unabhängiger Wissenschafter, gegründet.

Kranke Menschen sind verunsichert und verletzlich, sie brauchen verlässliches Wissen, um gute und passende Entscheidungen treffen zu können. Hier hat die EbM viel geleistet, indem sie Antworten darauf lieferte, welche Vor- und Nachteile Behandlungsmethoden, Früherkennungsprogramme oder Untersuchungen haben und in welchen Fällen sie überhaupt nötig sind. Auch das Anforderungsprofil für klinische Studien wurde durch sie deutlich nach oben geschraubt.

Werbebegriff

Doch immer häufiger werden dem System Mängel attestiert, die das Wohl und die Interessen der Patienten gefährden. "Steckt die EbM-Bewegung in der Krise?", fragte etwa die Gesundheitswissenschafterin Trisha Greenhalgh 2014 im Fachmagazin BMJ.

Der US-Epidemiologe John Ioannidis von der Stanford-Universität lieferte 2016 die Antwort: Heute sei die EbM zwar fest etabliert, aber vielleicht in ihrer Existenz bedroht wie nie zuvor, schrieb er im Journal of Clinical Epidemiology.

Mehrere Gründe seien dafür ausschlaggebend: Die Marke EbM werde zunehmend für markt- und standespolitische Interessen missbraucht. "Evidenz ist zu einem Werbebegriff geworden, der nichts mehr damit zu tun hat, wie er von den Gründern der EbM ursprünglich intendiert war", kritisiert auch der Heidelberger Allgemeinmediziner Gunter Frank.

Frühzeitig erkennen

So werde in Studien immer häufiger mehr Augenmerk auf sogenannte Surrogatparameter wie Blutdruck, LDL-Cholesterin, Body-Mass-Index oder Blutzucker gelegt statt auf patientenrelevante Endpunkte wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Mortalität. "Diese Messwerte dienen dazu, ein Gesundheitsrisiko frühzeitig zu erkennen, sie dürfen aber nicht mit Krankheit gleichgesetzt werden", erklärt Peter Nawroth, Leiter der Abteilung für Innere Medizin an der Uniklinik Heidelberg.

In der Entwicklung von Leitlinien und der Behandlung von Patienten passiert das allerdings immer wieder. Selbst dann, wenn gut gemachte, aussagekräftige Studien vorliegen, die das Gegenteil nahelegen.

Unter Druck

Bluthochdruck ist ein gutes Beispiel dafür. Ohne Zweifel erhöht Hypertonie das Risiko für vaskuläre Erkrankungen, Herzinfarkt und Schlaganfall. Deshalb ist es wichtig, den Blutdruck unter Kontrolle zu halten. Zentral ist die Frage nach jenem Wert, ab dem die Einnahme blutdrucksenkender Medikamente sinnvoll ist und den Patienten mehr nutzt als schadet.

In der sogenannten Sprint-Studie wurde vier Jahre lang untersucht, ob eine aggressivere Blutdruckkontrolle bei über 50-jährigen Patienten mit Hypertonie und erhöhtem Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall medizinisch gerechtfertigt sei.

Die Studienautoren teilten die insgesamt 9361 Probanden in zwei Gruppen ein: Eine Hälfte der Patienten wurde medikamentös so eingestellt, dass sie einen systolischen Wert von unter 120 erreichten, die andere Gruppe sollte gemäß den bisherigen Empfehlungen unter 140 liegen.

Geringer Unterschied

Das Ergebnis: Kardiovaskuläre Ereignisse – also Herzinfarkt, Schlaganfall, Störung der Pumpfunktion des Herzens oder Tod durch eine kardiovaskuläre Erkrankung – traten in der Gruppe mit der strengeren Blutdruckeinstellung in 1,65 Prozent der Fälle jährlich auf. In der Kontrollgruppe waren es 2,19 Prozent.

Der relativ geringe Unterschied von 0,54 Prozent war wegen der großen Stichprobe signifikant. "Eine statistische Signifikanz bedeutet aber keineswegs, dass sie auch für Patienten relevant ist", sagt Nawroth.

Gesund oder schon krank

Die American Heart Association nahm die Ergebnisse dennoch zum Anlass, um Ende 2017 eine Leitlinie herauszugeben, in der Blutdruckwerte ab 130 zu 80 statt wie bisher ab 140 zu 90 als therapiebedürftig definiert wurden – unabhängig davon, ob ein erhöhtes Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung gegeben ist.

"Eine Studie, die an kranken Menschen mit erhöhtem Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall durchgeführt wurde, diente dazu, die Grenzwerte für alle zu ändern. Dadurch wurden rund 30 Millionen Menschen, die bislang als gesund galten, zu Kranken erklärt, die eine medikamentöse Behandlung brauchen", kritisiert Nawroth.

Christiane Druml, Direktorin des Josephinum, mit ihrem Lieblingsbild: der Aorta.
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Von Pharmabranche durchgeführt

Eine weitere Besonderheit der Studie lag in der Art, wie der Blutdruck gemessen wurde. Die Forscher achteten penibel darauf, tatsächlich den Ruhepuls zu ermitteln. "Bei konventionellen Blutdruckmessungen wissen wir, dass die Patienten nervös sind und höhere Werte im Vergleich zum echten Ruhepuls haben. Umgerechnet auf die konventionelle Methode der Blutdruckmessung dürfte also der systolische Blutdruck der strenger eingestellten Patienten bei etwa 135 gelegen sein", gibt Stefan Kopf, Leiter der Studienambulanz für Diabetesforschung am Uniklinikum Heidelberg, zu bedenken.

Ein weiterer Kritikpunkt: Die meisten randomisiert-kontrollierten Studien werden von der Pharmabranche durchgeführt, um die Wirkung von Medikamenten zu untersuchen. Neue Fragen, die sich daraus ergeben und für die Patienten relevant sind, bleiben aber unerforscht.

"Wir wissen beispielsweise aus solchen klinischen Studien, dass der Blutzuckerlangzeitwert und die Dauer, seit der ein Patient an Diabetes Typ 1 erkrankt ist, nur elf Prozent der Spätschäden am Auge erklären. Es muss also noch viele weitaus relevantere Ursachen geben, die den Folgeschaden verursachen. Solche Fragen interessieren die Industrie aber nicht", so Peter Nawroth.

Der vergessene Patient

Der größte Vorwurf an die EbM: Die für die Studien ausgewählten Patientengruppen decken sich nur wenig mit jenen Menschen, die dann Ärzte im Spital oder in der Praxis zu Gesicht bekommen. Die meisten Arzneimittel werden an Männern zwischen 40 und 60 Jahren erforscht, der Großteil der behandelten Patienten ist jedoch älter.

Diese Menschen erhalten dann Therapien, die an jüngeren Probanden erforscht wurden. "Pharmafirmen suchen sich Studienteilnehmer nach jenen Kriterien aus, die möglichst gute Studienergebnisse versprechen. Der Patient, der vor mir sitzt, leidet meist an mehreren Erkrankungen und hat nichts mit dem in der Studie untersuchten Probanden gemein", so Nawroth.

Maßgeschneiderte Behandlung

Da sich der Körper mit dem Alter ändert, ist es auch naheliegend, dass ältere Menschen eine für sie maßgeschneiderte Behandlung brauchen. Zumindest im Fall von Diabetes dürfte das der Fall sein, wie die Ergebnisse einer Ende 2016 im New England Journal of Medicine veröffentlichte Beobachtungsstudie nahelegen. Demnach weisen über 75-jährigen Diabetiker ein um etwa 30 Prozent geringeres Herzinfarktrisiko als Nichtdiabetiker auf.

"Möglicherweise hat ein leicht erhöhter Blutzuckerlangzeitwert im Alter einen schützenden Effekt", sagt Nawroth. Dass es dazu eine Interventionsstudie geben wird, gilt aber als unwahrscheinlich, denn bis heute gibt es keine einzige Studie, in der untersucht wurde, wie und ob man den Blutzucker von über 70-Jährigen einstellen soll.

Streit statt Jubel

Ende 2018 feierte das Cochrane-Netzwerk sein 25-jähriges Jubiläum in Edinburgh. Es hätte eine freudvolle Feier für jene Institution werden sollen, die mit ihren systematischen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen schon so manchen medizinischen Unfug aufgedeckt hatte. Doch statt Jubel gab es Streit.

Peter Gøtzsche, eines der Gründungsmitglieder und Leiter des Nordischen Cochrane-Zentrums, wurde aus der gesamten Vereinigung ausgeschlossen. Aus Protest verließen vier weitere Mitglieder, darunter auch Gerald Gartlehner, Leiter von Cochrane Österreich, das 13-köpfige Board.

Zu "industriefreundlich"

Was war geschehen? Anlass war der Cochrane-Review zur HPV-Impfung. Das Team um Gøtzsche äußerte nach dem Erscheinen scharfe Kritik an der Analyse und warf den Autoren vor, zu "industriefreundlich" zu sein und ein deutlich positiveres Bild der HPV-Impfung zu zeichnen als das tatsächlich zutreffende.

Studien, in denen Nebenwirkungen der Impfungen breiter diskutiert wurden, seien nicht berücksichtigt und die Ergebnisse der Pharmastudien zu unkritisch übernommen worden. Die Krise ist nun also auch dort angekommen, wo bislang das Gütesiegel der Unabhängigkeit prangte.

Relevanz statt Evidenz

"Wir müssen die EbM völlig neu denken", sagt Peter Nawroth. "Durch unabhängige, von der EU geförderte Forschung. Vor allem benötigen wir Ergebnisse zu unterschiedlichen Alters- und Subgruppen. Nur so können wir die wichtigsten Fragen beantworten." Doch hat die EbM durch den Trend zur individualisierten Medizin nicht ohnehin ein Ablaufdatum?

"Nein, die personalisierte Medizin steht erst am Anfang. Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt kommt", sagt Nawroth. Dem Experten zufolge sollte deshalb die EbM weiterentwickelt werden – in Richtung eines relevanzbasierten Sinns für die Patienten. (Günther Brandstetter, CURE, 16.6.2019)