Ich habe in meinem Blog immer wieder über die Auswirkungen der AHS-Zentralmatura auf die Schüler und meinen Nachhilfeunterricht geschrieben. Nun möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich einem vermeintlichen Nebenschauplatz zu widmen, der – so wie ich es erlebe – so ziemlich alles von früher auf den Kopf oder zumindest in Frage stellt: Der Einsatz technischer Hilfsmittel.

Früher musste man als Maturant rechnen können

Wenn wir die Zeit zurückdrehen, dann stoßen wir auf mehrere Generationen von Oberstufenschülern und Maturanten, die mit dem klassischen TI-30 ihr Auslangen gefunden haben. Dieser Taschenrechner unterstützte sie dabei, mittels SIN/COS/TAN, LOG/LN oder Potenzen/Wurzeln Dinge auszurechnen. Da die Schularbeiten aus größeren, rechenlastigen Beispielen bestanden, musste man händisch sein Können unter Beweis stellen. Ob das Rotieren von Ellipsen oder das Einschreiben von Drehkegeln uns Schüler "intelligenter" gemacht beziehungsweise uns aufs "Leben danach" vorbereiten haben, sei jetzt dahingestellt. Aber irgendwie war klar, was Maturanten können mussten: Nämlich rechnen. Von Anfang bis Ende.

Mit Einführung der standardisierten Reifeprüfung und den damit verbundenen technischen Hilfsmitteln hat sich aus meiner Sicht so ziemlich alles, was händisches Rechnen betrifft, relativiert. Man bekommt keine positive Schularbeit, wenn man rechnen kann, sondern nur dann, wenn man Verständnisfragen im Rahmen der Grundkompetenzen beantworten kann. Zuerst muss die Zwei-Drittel-Hürde des ersten Teils gemeistert werden. Verständlicherweise gehen sämtliche Energien dorthin und damit hat sich auch mein Unterricht verändert. Im zweiten Teil einer Schularbeit sollen dann die Kompetenzen vertieft und praktisch angewendet werden. Soweit so gut. Dies ist die eine Seite.

Mit den alten Taschenrechnern lernte man noch, nonanet, das Rechnen.
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Heute müssen sie nur einen Knopf drücken

Die andere Seite sind der Einsatz von CAS-fähigen Taschenrechnern (TI-Nspire und Casio Classpad 2) und dem kostenfreien Programm GeoGebra. Diese Technologien sind nicht nur eine Unterstützung auf dem Weg zur Lösung, sondern sie lösen Gleichungen beziehungsweise Gleichungssysteme komplett. Das hat nun – beabsichtigt oder nicht – Auswirkungen auf so einiges. Ich möchte hier ein paar Beobachtungen teilen:

In der Vergangenheit wurde in der 6. Klasse Gymnasium natürlich das Thema Logarithmus unterrichtet. Da ging es um dessen Grundlagen und die damit verbundenen Rechenregeln, damit schlussendlich der Logarithmus als Werkzeug beim Lösen von Exponentialgleichungen zum Einsatz kommt. Sämtliche Berechnungen von Halbwertszeiten beim Zerfall von radioaktivem Polonium oder Kobalt waren die Folge.

Aktuell sehe ich, dass in manchen Klassen der Logarithmus an sich nur mehr ein Nieschendasein fristet und Rechenregeln nicht mehr im Unterricht vorkommen. Sobald nämlich die Dauer eines radioaktiven Zerfalls berechnet werden soll, werden die jungen Leute bestärkt, ihren CAS-fähigen Taschenrechner mit dem Befehl SOLVE anzuwerfen. Mitunter wird den Schülern gezeigt, wie der händische Weg mittels Logarithmieren beider Seiten der Gleichung aussehen würde. Meine Erfahrung ist, dass das SOLVEN nun unreflektiert zum Einsatz kommt, egal wie einfach der händische Weg gewesen wäre. Bei Zerfallsgesetzen der Form N(t)=N(0)*a^t lassen sich daher nicht nur die Zeit t, sondern auch die Anfangsmenge N(0), die Zielmenge N(t) wie auch die Zerfallskonstante a berechnen.

Grundkompetenzen stehen über Verständnis
 
Ist das jetzt schlimm? Ich weiß es selber nicht. Eltern zahlen mehr als 150 Euro für diese Super-Taschenrechner, dann wäre es ja legitim deren Stärken auszunutzen, oder? Genauso könnten Lehrer argumentieren, dass das händische Rechnen im Unterricht ja vorgekommen sei, aber neue Technologien nun mal vorhanden sind. Eines ist für mich glasklar: Vor allem mathematisch weniger begabte Schüler verlieren die "Bodenhaftung" und klopfen alles mit der SOLVE-Funktion in ihre Rechner. Einfache Äquivalenzumformungen wären anscheinend zu viel Aufwand.

Damit schließt sich der Kreis wieder mit der Antwort auf die Frage, was heutige Maturanten eigentlich beherrschen sollten. Viele Beispiele aus der Vergangenheit machen heute schlichtweg keinen Sinn mehr. Wo noch in der 7. Klasse händisches Differenzieren mittels Quotienten- und Kettenregel den Schülern ein gewisses "Handwerk" abverlangte, vereinfacht heute der Taschenrechner oder GeoGebra alles auf Knopfdruck. Ist dafür jetzt das schriftliche Maturieren in Mathematik leichter geworden? Natürlich nicht. Genau deshalb weil die Taschenrechner so viel können, werden die Grundkompetenzen (vulgo: Ankreuzbeispiele) fast vollständig über das Verständnis abgefragt. Ich konnte in den ersten Teilen der bisherigen Maturen keinen wirklich sinnvollen Einsatz dafür finden. Aber gut: Es liegt wahrscheinlich daran, dass ich die wenigen echten Rechenbeispiele schneller mit der Hand gelöst habe, als der Taschenrechner hochgefahren ist. Also wohl mein Fehler.

Ich freue mich bereits über die Postings hier im Forum, die das Thema von unterschiedlichen Perspektiven beleuchten können. Ich frage mich immer wieder, wie denn auf der Universität damit umgegangen wird, dass das handwerkliche Rechnen weniger wurde, dafür aber Computer-Algebra-Systeme zu einem gewissen Teil beherrscht werden.

GeoGebra und Normalverteilung

Ein kleiner Einschub zum Thema "GeoGebra beherrschen": Es fehlt natürlich an den zeitlichen Ressourcen im Mathematikunterricht, dass ein vertiefter Umgang mit dieser Software möglich wäre. Genauso glaube ich, dass auch ein guter Teil der Lehrenden nicht wirklich davon überzeugt ist. Selbst ich als Nachhilfelehrer stehe bei diesem Thema zwischen den Fronten. 99 Prozent meiner Zeit bereite ich Schüler und Schülerinnen auf Teil-1-Fragen vor, klarerweise ohne Technologie. Das, was noch übrig bleibt, sind die berühmte SOLVE-Funktion von Gleichungen und Gleichungssystemen und Binomial- und Normalverteilung.

Zur Normalverteilung fällt mir abschließend noch ein, dass sich in der für die standardisierte Reifeprüfung approbierten Formelsammlung keine Standardnormalverteilungstabelle mehr findet und diese damit quasi abgeschafft wurde. Und der Unterricht ist diesem selten-dämlichen Schachzug auch gefolgt. Keine Ahnung, wer das verbrochen hat. Und nein, eine andere Formelsammlung dürfen Maturanten nicht verwenden! Und selbst ich als Dienstleister darf nicht zur Tabelle greifen, sondern muss meinen Schülern den "Workaround" am Taschenrechner und in GeoGebra zeigen. O tempora, o mores!

Kein Selbstverständnis der Mathematik mehr

Meine persönliche Conclusio: Durch den Einsatz dieser Technologien wurde das bisherige Selbstverständnis der Schulmathematik aus den Angeln gehoben. Kein Schüler würde händisches Rechnen oder Lösen von Gleichungen üben und anwenden, wenn sich alles per Knopfdruck oder Mausklick von alleine löst. Diese Entwicklung sehe ich als nicht umkehrbar an. Und ich glaube auch nicht, dass sich das ändern wird. Schlussendlich werden sich die Universitäten damit abfinden müssen, dass die "Studierfähigkeit" der heutigen Maturanten ein Stück weit anders ist. Oder sie tun es nicht und die Standardnormalverteilungstabelle kommt doch wieder in Mode! (Rainer Saurugg, 5.4.2019)

P.S. Aktuelle Anekdote von einem befreundeten Dozenten auf der TU: Als er in der ersten Stunde "Mathematik für Architekten" eine Gleichung an die Tafel schreibt und einfache Äquivalenzumformungen wiederholen möchte, bricht eine erstsemestrige Studentin in Tränen aus. Sie hätte gehofft, dass sie das niemals wieder machen müsste.
 
P.P.S. Eine Studentin der Pharmazie kam 2018 zu mir, um sich für die schriftliche Prüfung im Fach "Mathematik für Pharmazeuten" fit zu machen. Das erste Fünftel aller Fragen widmete sich dem AHS-Oberstufenstoff. Ich war doch überrascht, dass ein händisches Differenzieren eines komplizierten Bruches verlangt wurde. Natürlich ohne Technologieeinsatz.

P.P.P.S. Ich möchte an dieser Stelle aus dem Blog von Erich Neuwirth zum Thema Taschenrechner zitieren: "Mit diesen Geräten gibt es aus didaktischer Sicht ein fundamentales Problem: Außerhalb des Schulunterrichts werden sie praktisch nirgends verwendet. Die Schule vermittelt also im Mathematikunterricht als eine der zentralen Botschaften: In Mathematik in der Schule verwenden wir Werkzeuge, die kein Mensch außerhalb der Schule je verwendet." Auch darüber sollte man einmal nachdenken.

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