Die Journalisten, die mich in den letzten Wochen zu meinem neuen Buch interviewt haben, haben meine kritischste Seite herausgekitzelt und das ist legitim. Ethisches Handeln im digitalen Zusammenhang heißt das "Bio" in der Informatik einführen. Und jeder der die Geschichte der Bio-Bewegung kennt weiß: Am Anfang stand zunächst mal die Einsicht, dass es überhaupt Umweltprobleme gibt, Waldsterben, Massentierhaltung, verseuchte Böden, et cetera. Das war nicht immer schön anzuhören. Und genauso ist es auch mit der Digitalisierung. Wie die Wirtschaftswissenschafterin Shoshana Zuboff in ihrem Buch "Der Überwachungskapitalismus" zeigt, ist nicht alles was digital ist automatisch gut und so menschenfreundlich, wie es sich auf unseren süß-bunten Interfaces darstellt.

Bei meiner digitalen Ethik geht es aber tatsächlich nicht primär ums Moralisieren, Nörgeln und Kritisieren. Vielmehr geht es um Diät, um die Frage: Wie handele ich richtig im Zeitalter der Digitalisierung? Ich als Privatperson, als Mitarbeiter, Unternehmer oder Investor? Und welche Herausforderungen stellen sich mir? Das Buch enthält eine Vision und Anleitung zu echtem Fortschritt im Zeitalter der Digitalisierung. Es denkt über ein gutes Leben nach und dem persönlichen Fortschritt jedes Einzelnen – privat und im Unternehmen.

Fortschritt durch Digitalisierung

Wenn Digitalisierung Fortschritt für uns Menschen bringen soll, dann muss sie mehr sein als ein Technologiesandkasten, der für ein kleines bisschen Effizienz, Geld und Komfort Bewährtes automatisiert und zerstört. Es sollte stattdessen darum gehen, mit Technik positive menschliche Werte zu fördern. Dafür müssten wir uns in unseren Innovationsprozessen in Unternehmen systematisch mit Werten beschäftigen, diese analysieren und dann entsprechende technische Voraussetzungen schaffen. Das Stichwort heißt "Ethics by Design" und ich selbst arbeite mit der größten Ingenieursorganisation IEEE daran, solch eine Vorgehensweise zu standardisieren.

Die traurig Wahrheit ist jedoch: "Wert-volle" Technik allein reicht noch nicht ganz aus für echten Fortschritt im digitalen Zeitalter. Zwar bringen Werte wie Transparenz, Verantwortlichkeit, Privatheit, Sicherheit, et cetera schon viel, um Digitalisierung menschenfreundlicher zu gestalten. Aber letztlich sind wir, Nutzer und Bürger, ebenso verantwortlich, unseren täglichen Umgang mit digitalen Services bewusster zu gestalten; so wie wir das in vielen anderen Bereichen, etwa im Umgang mit Autos und Alkohol auch tun. Der Weg der Werte in der Digitalen Ethik ist also auch ein tugendethischer.

Wie kann man Digitalisierung menschenfreundlicher machen?
Foto: APA/AFP/ODD ANDERSEN

Ein Weg der Werte in vier Schritten

Ich beschreibe den Weg der Werte in vier Etappen, die jeder für sich selbst durchlaufen kann: Die erste Etappe besteht im klugen Erkennen der eigenen Wertziele im Umgang mit dem Digitalen, privat und im Unternehmen. Will ich Freundschaften und Gemeinschaften damit pflegen? Wie steht es um mein eigenes Wissen im Kopf und nicht auf einer Festplatte? Wie frei bin ich und will ich sein im Umgang mit digitalen Services oder meinem Handy? Die zweite Phase versucht ein tiefes Verstehen herzustellen für die einzelnen Werte, um die es einem geht, die man priorisieren will. Die dritte Etappe braucht neue Gewohnheiten, Wertprioritäten mutig zu leben ebenso wie letztlich die Bereitschaft, auf Wertvernichtung zu verzichten, auch wenn man damit mehr Geld verdient oder cooler rüber kommt.

Würden Unternehmen solch einer Digitale-Ethik-Strategie folgen, könnten Plattformen, die heute Apps zu Chefs machen und Menschen digital ausbeuten, zu positiven Communitys werden, in denen sich Menschen loyal und zufrieden entfalten. Roboter und Künstliche Intelligenzen könnten zu höflichen Coaches werden, die Freiheit und Wissen in jedem Einzelnen von uns fördern statt uns zu bevormundenden. Gesundheitsplattformen könnten unser medizinisches Wissen vertausendfachen, ohne dabei Erkenntnisse zu privatisieren und unsere persönlichen Daten zu verhökern. Mindfulness im Umgang mit dem Digitalen brächte uns so viel weiter als alle Rechtekataloge oder Lektionen zusammen.

Hürden des digitalen Fortschritts

Aber es gibt große Hürden, die dieser positiven Zukunft entgegen stehen: Die erste Hürde ist unser modernes Denken, wo das Wertvolle ins Märchen verbannt wurde. Wir sind erzogen worden, Fortschritt allein mit Erfindergeist gleichzusetzen, statt mit wahrer Wertschöpfung in unserem täglichen Leben. Uns wurde pauschal beigebracht, dass neu gleich gut ist, alt gleich schlecht und Vernunft bedeutet beobachtbare Fakten statt "wert-volles" Handeln.

Die zweite Hürde ist das Storytelling der IT-Industrie, was die Fähigkeiten des Digitalen maßlos überhöht, ohne die Nachteile des neuen Stoffes offenzulegen. Die Natur des Digitalen ist immer unvollständig, fehlerhaft und geteilt. Sie trennt Inhalt und Form und wird bewusst so geschaffen, dass sie uns abhängig und unfrei macht, uns unglücklich verquickt mit Daten- und Kapitalmärkten.

Erst wenn wir diese Grenzen des Digitalen verstehen und die Wechselwirkungen mit uns Menschen, können wir eine gesunde Erwartung an die tatsächliche Leistungsfähigkeit des digitalen Stoffs entwickeln. Erst dann können wir am echten Fortschritt arbeiten. (Sarah Spiekermann, 1.4.2019)