In Graz gehet es bei Lucia di Lammermoor um Patienten. Ana Durlovski ist Lucia.

Werner Kmetitsch

Graz – Zack, und plötzlich ist der Frühling da. Der Himmel ist blau, die Luft ist lau, und man kann jackenfrei und in zehn Minuten vom Grazer Favoriten (Annenstraße Anfang, tolle Trash-Tristesse) zum Grazer Museumsquartier (Bobo-Hotspot Kunsthaus) spazieren und dann noch weiter zur Oper. Was spielen sie denn da gerade? Lucia di Lammermoor. Verena Stoiber hatte da so eine Idee, die Regisseurin hat Donizettis tragische Oper vom Schottland des ausgehenden 16. Jahrhunderts in ein Hospital des ausgehenden 19. Jahrhunderts verlegt.

Allmächtiger Medicus

Enrico Ashton ordiniert hier als allmächtiger Medicus und experimentiert mit hypnotischen und anderweitigen Methoden an psychisch labilen Patientinnen herum. Der französische Neurologe und Hysterieforscher Jean-Martin Charcot diente der Deutschen hierbei als Inspiration. Und so erblickt man in Graz das aufsteigende Rund eines alten hölzernen Hörsaals, eines "anatomischen Theaters" (Bühne und Kostüme: Sophia Schneider). Zu Beginn von Stoibers Werkdeutung ist Jean-Martins – pardon: Enricos Schwester Lucia noch eine selbstbewusste Frau, die auch mal den Arztkittel überstreift und an den Leichen des Bruders herumfingert.

Zwang und Heirat

Doch die Zwangsverheiratung mit dem einflussreichen Lord Bucklaw und der Verzicht auf ihre große Liebe Edgardo setzt der Guten auch in dieser Inszenierung enorm zu und treibt sie im Eilzugtempo in die psychische Zerrüttung.

Stoibers zeitliche Verlegung des Stoffs überzeugt partiell, mitunter spießt sich die Sache aber auch; der Verzicht auf stimmungsvolle Bühnenbilder schmerzt à la longue. Da entschädigt es auch nur begrenzt, dass sich die Bühne eifriger dreht als manches Ringelspiel im Prater und der Hörsaal auf seiner Rückseite einen düsteren, rohen Raum bereithält, der wohl die Dunkelkammer der Psyche darzustellen hat.

Lustvoll mitspielen

Die Lucia-Routinière Ana Durlovski spielt in Stoibers Deutung lustvoll mit, ihr höhensicherer Sopran ist zu Beginn noch etwas eng, erweist sich jedoch bei den Koloraturen als wendig und präzise geführt. Als Goldkehlchen entpuppt sich Pavel Petrov: Das Ensemblemitglied der Grazer Oper (und Gewinner des Operalia-Wettbewerbs 2018) betört als jugendlicher Edgardo mit einer idealen Mischung aus lyrischer Wärme und heldischer Kraftentfaltung. Und dass es bei der finalen Cabaletta stimmlich noch einmal ans Eingemachte geht, merkt man dem Weißrussen fast gar nicht an.

Energischer Macher

Rodion Pogossov gibt den Enrico als energischen Macher, eine vokale Autorität ist der Russe im Bereich der oberen Mittellage – darunter wird es schnell welk, darüber spröde. Für die diabolischen Züge, die die Regie dem Raimondo zuschreibt, ist der Bass von Alexey Birkus fast zu rund, nobel und klangschön. Exzellent Albert Memetis Lord Bucklaw. Andrea Sanguineti könnte mit den Grazer Philharmonikern in den Folgevorstellungen noch an der letzten Präzision und Prägnanz feilen.

Die Premiere endete mit Bravos für die Sänger und einem Buh-Orkan für die Regie. Wohl zu viele nackte Frauen und zu drastische Unterleibsblutungen für einen harmonischen steirischen Frühlingsbeginn… Egal. Im Café Wolf konnte man sich von all den Aufgeregtheiten und vom Drehwurm auf angenehme Weise erholen. (Stefan Ender, 24.3.2019)