Während am Sonntagabend "Liebesgeschichten und Heiratssachen" von Johann Nestroy auf dem Spielplan stehen, mühen sich die fünf Protagonisten der Matinee im Rahmen der Burgtheater-Reihe "Debating Europe" mit dem Ende einer Langzeitbeziehung ab, die – darüber ist man sich einig – ohnehin nie eine Liebesheirat war. Auseinandergehen ist gleichwohl auch in dieser Beziehung schwer. Von dem Politologen Ivan Vejvoda vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen moderiert – und vom STANDARD mitorganisiert –, wurde beim Thema der Debatte, dem Brexit, deshalb auch viel über Scheidung gesprochen.

Tom Tugendhat, Mary Kaldor, Ivan Vejvoda, Tessa Szyszkowitz und Denis Staunton (v. li.) auf der Bühne des Wiener Burgtheaters.
Foto: Christian Fischer

"Ein Mediator würde einem Paar wohl sagen: Macht jetzt mal eine Pause", vermutet Tessa Szyszkowitz, aktuell "Profil"-Korrespondentin, davor in Jerusalem, Brüssel und Moskau. Viel zu viel Schaden habe der Brexit-Prozess, der eigentlich in fünf Tagen hätte enden sollen, schon angerichtet. Der englische Nationalismus sei geweckt. David Cameron, 2016 britischer Premierminister, habe die Kraft des Populismus unterschätzt, der auf ein Volk einwirkt, das bis zu dem verhängnisvollen Referendum am 23. Juni vor zwei Jahren an eine gänzlich andere politische Realität gewöhnt war: eine, wo man seine Stimme an eine der beiden großen Parteien gab, sagt Szyszkowitz. "Andererseits gab es in Großbritannien noch nie eine so starke proeuropäische Bewegung wie gerade im Moment."

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Der dritte Weg

Die Politikwissenschafterin Mary Kaldor von der London School of Economics sagt dazu: "Es gibt neben Deal und No Deal noch eine dritte Option, nämlich No Brexit." Die Großdemonstration in London am Samstag, für Kaldor ist sie ein Beweis dafür, dass die Bevölkerung genug hat vom ewigen Streit. "Die Leute würden wohl lieber einfach in der EU bleiben wollen, anstatt noch zehn Jahre weiter zu diskutieren."

Mary Kaldor von der London School of Economics.
Foto: Christian Fischer

Denn: "Es gibt ohnehin keinen guten Brexit." Vor allem keinen im Sinne jener, denen von den Brexiteers Hoffnung auf ein besseres Leben ohne EU gemacht wurde. Der Brexit sei ein Tory-Projekt, ist sich Kaldor sicher. Was die EU brauche, sei eine Reformagenda, ein Green New Deal. Und ein Großbritannien, das sich dort – ohne Brexit – konstruktiv einbringt.

Keine Überraschung

Dass das Referendum so ausging, hat Tom Tugendhat nicht überrascht. Der Brite mit österreichischen Wurzeln, früher Armeeoffizier, seit 2015 Abgeordneter der Konservativen im Unterhaus und damals gegen den Brexit, heute für den Deal von Premierministerin Theresa May, hat im Vorfeld der Abstimmung 15.000 Hausbesuche in seinem Wahlkreis gemacht, wie er schätzt. "Ich habe ein noch klareres Ergebnis erwartet."

Tom Tugendhat, Abgeordneter der Tories.
Foto: Christian Fischer

Tugendhat, ganz Politiker, nimmt's pragmatisch: "Das britische Volk hat einen Weg einer europäischen Zusammenarbeit abgelehnt, nicht alle." Großbritannien und der Rest des Kontinents arbeiteten seit Jahrtausenden zusammen, dies werde auf jeden Fall so bleiben. Zudem sei sein Land keineswegs das einzige in Europa, das negative Gefühle gegenüber der EU in sich trage.

Angst um den Frieden

Besonders empfindlich reagiert man in Irland auf das Getöse beim großen Nachbarn. Denis Staunton, ein Journalist, der für die Tageszeitung "Irish Times" aus London berichtet, erklärt die Angst um den Frieden auf der "Insel hinter der Insel", wie er seine Heimat Irland nennt: Dadurch, dass jeder Nordire bis dato wählen kann, ob er Staatsbürger der Republik im Süden oder des britischen Nordirland sein will oder beides, lasse sich die Frage nach der eigenen Identität ganz einfach beantworten.

Tue sich eine harte EU-Außengrenze zwischen Dublin und Belfast auf, könne sich das ändern. "Auch ein No Deal wäre aber nicht das Ende der Geschichte. Wir müssten dann eben eine andere Form des Vertrags finden."

Kristallkugel

Die britischen Konservativen würden irgendwann den politischen Preis dafür zahlen müssen, dass sie "den Frieden in Irland unter den roten Bus von Boris Johnson geschmissen" haben, glaubt die Journalistin Szyszkowitz, die damit rechnet, dass Großbritannien gegenüber der EU schlussendlich einen Status ähnlichen jenem Norwegens haben wird. Der Politiker Tugendhat schätzt die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexits auf "irgendwo zwischen 50 und 60 Prozent".

Journalistin Tessa Szyszkowitz.
Foto: Christian Fischer

Der Ire Staunton glaubt daran, dass Theresa May einen neuen Deal ins Unterhaus einbringen wird und dann die Abstimmung lautet: "ihr Deal" oder "No Deal". Und die Politologin Kaldor hofft darauf, dass Großbritannien so lange in der EU bleibt, dass es an der Wahl zum EU-Parlament teilnimmt – und aus den Diskussionen darüber am Ende der Posse doch noch ein Happy End entsteht: ein No Brexit. (Florian Niederndorfer, 24.3.2019)