Peter Pirker
Codename Brooklyn

Jüdische Agenten im Feindesland. Die Operation Greenup 1945
Tyrolia, Innsbruck 2019
368 Seiten, 29,95 Euro

Cover: Tyrolia

In der Nacht auf den 26. Februar 1945 flog ein viermotoriger B-24-Bomber zum wiederholten Mal über die Stubaier Alpen. Die Wetterlage erschien diesmal günstiger für die waghalsige Mission. An Bord der Maschine im Auftrag des US-Geheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) machte sich ein ungleiches Trio zum riskanten Absprung bereit: die beiden jüdischen Flüchtlinge Fred Mayer und Hans Wijnberg sowie der desertierte Tiroler Wehrmachtssoldat Franz Weber.

Luftbild von Innsbruck, April 1945.
Foto: National Archives and Records Administration

Das Ziel der Operation war klar umrissen: Die drei Agenten sollten sich zu Webers Heimatort Oberperfuss durchschlagen, einem Bergdorf nahe Innsbruck, dort ein Funknetz aufbauen und Informationen zu Waffen- und Gütertransporten über den Brennerpass beschaffen. Der Schienenverkehr auf dieser Strecke war die entscheidende Verbindungslinie der deutschen Wehrmacht zur italienischen Front. Zudem gab es weitere militärisch relevante Angriffsziele in der Umgebung, etwa die Messerschmitt-Werke in Kematen, die Teile für deutsche Jagdflugzeuge produzierten.

Abstieg ins Ungewisse

Tatsächlich sollte die Operation mit der Tarnbezeichnung Greenup zum spektakulärsten und erfolgreichsten Einsatz des amerikanischen Geheimdienstes nicht nur auf österreichischem Boden, sondern auf dem gesamten mediterranen Kriegsschauplatz werden, schreibt Peter Pirker in seinem neuen Buch "Codename Brooklyn". Der Wiener Historiker hat die atemberaubende Geschichte akribisch aufgearbeitet und dabei auch einige Blindstellen früherer Darstellungen gründlich ausgeleuchtet.

Die Stadt wurde im Mai kampflos übergeben – dank Franz Weber, Hans Wijnberg und Fred Mayer (von links).
Foto: National Archives and Records Administration

Am Ende der Mission stand nicht weniger als die Verhaftung der regionalen NS-Führung und die kampflose Übergabe Innsbrucks an die US-Armee. All das konnten Mayer, Wijnberg und Weber freilich nicht ahnen, als sie bei eisiger Kälte um ein Uhr nachts im meterhohen Schnee landeten. Vier Stunden lang sammelten sie ihre aus dem Flugzeug abgeworfene Ausrüstung ein und begannen mit dem schwierigen Abstieg.

Bis dahin war das Leben der jungen Männer, alle drei noch keine 25 Jahre alt, höchst unterschiedlich verlaufen. Fred Mayer und Hans Wijnberg waren Juden, die vor dem Rassenwahn der Nazis in die USA geflohen waren. Mayer konnte 1938 mit seiner gesamten Familie aus Freiburg im Breisgau emigrieren, Wijnberg 1939 mit seinem Zwillingsbruder aus Amsterdam. Mayer und Wijnberg traten in die US-Armee ein – und fielen dort schnell durch ihre Talente auf.

Karriere in der Wehrmacht

Franz Weber hingegen hatte bis vor kurzem im Dienst der deutschen Wehrmacht gestanden. Geboren im tiefkatholischen Oberperfuss, hatte sich Weber als 19-Jähriger freiwillig als Offiziersanwärter gemeldet und eine rasante Karriere in der Wehrmacht hingelegt. Die Hoffnungen, die er zunächst in die Herrschaft des NS-Regimes legte, wichen nach und nach Zweifeln. Als Weber die Gewaltexzesse der "Partisanenbekämpfung" auf dem Westbalkan aus nächster Nähe miterlebte, wechselte er im Herbst 1944 die Seiten. Was ihn nun mit Mayer und Wijnberg einte, war der Wunsch, aktiv etwas gegen die Nazis zu tun.

Für Städte und Regionen legte das Team Codenamen fest: Innsbruck hieß im Funkverkehr Brooklyn, Garmisch wurde zu Flatbush.
Foto: National Archives and Records Administration

Tiroler Netzwerk

Das Risiko, das die drei Agenten dafür eingingen, war enorm. Aufzufliegen hätte mit größter Wahrscheinlichkeit Folter und Tod bedeutet, für Weber stand auch die Sicherheit seiner Familie in Oberperfuss auf dem Spiel. Im Dorf war bekannt, dass er desertiert war – doch die drei fanden dank der Hilfsbereitschaft einiger Bewohner schnell Unterschlupf. Über Webers Vermittlung entstanden auch die ersten Kontakte zu Gegnern des NS-Regimes.

Schon in der Planungsphase der Mission hatte sich herauskristallisiert, dass es vor allem Frauen waren, auf deren Hilfe die Agenten zählen konnten: Ohne Webers Schwestern in Oberperfuss und Innsbruck, ohne seine Verlobte Anni und deren Mutter Anna Niederkircher, Wirtin des Hotels Krone, wäre die Operation nicht möglich gewesen. Mit ihrer Hilfe und der Unterstützung weiterer Bekannter Webers gelang es in den folgenden Wochen, Verbindungen aufzubauen, die bald schon bis in die Innsbrucker Kriminalpolizei und sogar in die Gestapo hineinreichten.

Beschreibung der "Operation Greenup" in einem Dokument des Office of Strategic Services, Februar 1945.
Foto: National Archives and Records Administration

Getarnt als Offizier

Während sich Hans Wijnberg in Oberperfuss versteckt hielt und Informationen an die alliierten Streitkräfte in Süditalien funkte, schlüpfte Fred Mayer in die Rolle eines Wehrmachtsoffiziers. Er, der jüdische Flüchtling und US-Agent aus dem Schwarzwald, trat nun uniformiert in Innsbruck auf und trank mit deutschen Soldaten und Nazis. "Ich habe immer unter Druck am besten funktioniert", sagte er in einem Interview in den 1970er-Jahren. "Wenn Sie mich unter Druck setzen, können Sie nicht mit mir mithalten – auch jetzt nicht."

Das Greenup-Team in Oberperfuss nach der Befreiung. Hinten (von links): Hans Wijnberg, Maria Hörtnagl, Fred Mayer. Vorne: Anni Niederkircher und Franz Weber.
Foto: National Archives and Records Administration

Mayer sammelte Details über den Eisenbahnverkehr, Truppenbewegungen und Luftabwehrstellungen. Als seine Tarnung aufzufliegen drohte, nahm er die Identität eines französischen Fremdarbeiters an und erhielt eine Anstellung als Elektriker. Nun bekam er Zutritt zur unterirdischen Produktionsstätte der Messerschmitt-Werke.

Gestapo-Razzia

Doch Mayer wollte mehr tun, als nur Informationen zu beschaffen: Er sah die Chance gekommen, eine Untergrundorganisation aufzubauen, um die amerikanischen Truppen bei der Befreiung der Region aktiv zu unterstützen. Durch einen Gestapospitzel flogen Mayers Verbindungen allerdings auf, dutzende Personen wurden verhaftet und teils schwer misshandelt. Einer der Helfer der Operation Greenup, Robert Moser, starb an den Folgen.

Mayer wurde als amerikanischer Agent enttarnt und am 20. April 1945 festgenommen. Selbst unter schwerer Folter der Gestapo verriet er nichts, Weber und Wijnberg blieben unentdeckt. In weiterer Folge gelang es Mayer, aus der Haft heraus mit dem Gauleiter von Tirol-Vorarlberg, Franz Hofer, in Verhandlungen zu treten. Hofer ließ sich angesichts der unausweichlichen Niederlage zur Kapitulation bewegen.

Freie Stadt Innsbruck

Als sich die 103. US-Infanterie-Division der 7. US-Armee am 3. Mai 1945 Innsbruck näherte, kam Mayer den Militärs entgegen und berichtete, Hofer und seinen Stab interniert zu haben. Innsbruck wurde kampflos übergeben.

Innsbruck am 3. Mai 1945: Bewohner jubeln US-Soldaten beim Einzug in die Stadt zu.
Foto: National Archives and Records Administration

In seinem Buch erzählt Pirker diese Geschichte aus einem neuen Blickwinkel, der die vielen Helfer und vor allem Helferinnen der Operation Greenup sichtbar macht. Ein eigenes Kapitel ist auch der Nachkriegsjustiz gewidmet und rollt auf, in welch geringem Ausmaß die involvierten Nationalsozialisten nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden – auch von den Alliierten, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges neue Allianzen mit alten Nazis schmiedeten. (David Rennert, 22.3.2019)