Colin Crouch kritisiert Ex-Premierminister Tony Blair. Als Regierungschef habe er gegen die EU gewettert, nun sei er gegen den Brexit. "Das kommt zu spät."

Foto: University of Warwick / Harry Schiffer

Keine Person ist heute so sehr mit dem Begriff der Postdemokratie verbunden wie Colin Crouch. In seiner gleichnamigen Schrift, die weltweit zum Bestseller wurde, fasst der britische Sozialwissenschafter die Entwicklung zu einer solchen Demokratieform zusammen, bei der Wahlen nur mehr PR-Spektakel sind. Gleichzeitig kritisiert er die neoliberale Politik, bei der Großkonzerne an Macht gewinnen und Staaten sich durch privatisierte Gewerbe der Verantwortung für die Bürger entziehen.

Laut Crouch hat der Neoliberalismus auch dazu geführt, dass Klasse und Religion für die politische Identität eine immer unwichtigere Rolle spielen. Eine Folge davon ist die Krise großer Parteien, etwa der Sozialdemokraten, die sich zu sehr auf ihre Stammwähler aus dem Arbeitermilieu verließen. Stattdessen liegt der Fokus nun auf nationaler Identität, was Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit befeuert.

STANDARD: Welche Themen beschäftigen die Briten derzeit angesichts des kommenden Brexits?

Colin Crouch: In der Debatte um den Brexit sagten die Gegner, dass uns ein EU-Austritt schadet. Er beeinflusst unsere Wirtschaftleistung negativ. Dem widersprechen zwar einige Brexiteers, aber was viel interessanter ist: Andere unter ihnen sagen, dass das stimmen mag, es hier aber nicht nur um die Wirtschaft geht, sondern um eine moralische Frage. Es stehen "unsere" Werte als Briten gegen fremde Werte. Die nationalistische Debatte befindet sich also auch auf einer moralisch-ethischen Ebene. Deshalb müsste sich ihr Gegner auch auf diese Ebene bewegen und sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus aussprechen.

STANDARD: Wie könnte man gegen Nationalismus ankommen?

Crouch: Das ist derzeit die Hauptfrage. Nur eine Minderheit der Menschen ist ja fremdenfeindlich. Nationalismus ist eine Politik des Hasses, der Feindseligkeit. Viele wollen aber kein Leben voller Hass führen und sehen Einflüsse aus allen Kulturen als Bereicherung. Das findet man besonders unter jungen Leuten und in Großstädten, wo es sehr viele Minderheiten gibt. Hier ist die politische Anziehungskraft fremdenfeindlicher Gruppierungen am niedrigsten, die Ukip-Partei sammelte in London wenig Stimmen für den Brexit. Ich bin optimistisch und glaube, dass es einen Widerstand gegen diesen Nationalismus gibt und viel Raum für weitere Identitäten. Hier müssen andere Parteien ihren Platz finden.

STANDARD: Sie glauben, die Zeit der Großparteien ist vorbei?

Crouch: Die moderne Gesellschaft ist keine Gesellschaft großer Blöcke. Man lebt mit vielen individuellen Entscheidungen und Möglichkeiten. Besonders junge Menschen haben eher einen sich laufend verändernden Lebensentwurf. Deshalb muss auch die Politik diese Form annehmen, so wie es bereits geschieht. Das führt zu ganzen Gruppen von Parteien – konservativen, liberalen, grünen, sozialdemokratischen oder nationalistischen Gruppen, die unterschiedliche Koalitionen eingehen. Großparteien können versuchen, gegen diese Veränderung anzukämpfen, aber dann verlieren sie nur noch mehr Anhänger.

STANDARD: Vergangenen Oktober ist eines Ihrer Bücher auf Deutsch erschienen, "Ist der Neoliberalismus noch zu retten?". Ist er das?

Crouch: Der aktuelle Neoliberalismus ist ein Liberalismus der Großkonzerne. Deren Macht steht außerhalb von Regulierungsmaßnahmen. Wenn Neoliberale aber echte Marktwirtschafter sind, müssten sie die Regulierung großer Konzerne annehmen, denn diese sind durch ihre dominante Position und den mangelnden Wettbewerb eigentlich marktwidrig. Die OECD drückte zuletzt aus, dass es besonders in den USA zu viel Ungleichheit gibt und dies die Wirtschaft bedroht: Der Mehrheit des Volks fehlen Konsummöglichkeiten. Die Kette von Ungleichheit, Konsumproblemen und deshalb aufgenommenen Schulden haben wir in der Finanzkrise 2008 sehen können. Das sind die Defekte des Neoliberalismus. Sein Bestehen hängt von der Beantwortung der Frage ab: Können neoliberale Politiker und Wirtschaftskräfte Regulierung durch höhere Steuern akzeptieren?

STANDARD: Eine Regulierung von Konzernen brauchte es auch, um den menschenverursachten Klimawandel einzudämmen. Wie lässt sich das politisch durchsetzen?

Crouch: Für größere Entscheidungen ist der Konsens von Großkonzernen hilfreich. Es gibt Möglichkeiten der Wirtschaft, zur grünen Welle beizutragen, etwa durch Windräder. Alles hängt von der politischen Macht der Energieindustrie ab. In den USA haben Ölkonzerne eine lange Geschichte mit politischem Einfluss. Aber in Europa gibt es Möglichkeiten für eine grüne Wirtschaft.

STANDARD: Dennoch passiert wenig, und diese Maßnahmen sind teilweise nicht energieeffizient.

Crouch: Die Finanzkrise hat alles verändert. Wir haben an Geld und Wachstum eingebüßt und sagen deshalb, wir haben keine finanziellen Mittel für die Umwelt. Ökologische Bewegungen können dabei helfen, dass die Klimafragen zur Tagesordnung zurückkehren. Ein weiteres Problem ist, dass Umweltthemen nicht für alle Menschen eine Identität darstellen. Vielleicht ist das ja ein Konflikt zwischen der Identität von heute und der Identität der Zukunft. Allerdings hat die Zukunft keine Stimme. Auf kurze Sicht ist es immer leichter, nichts gegen den Klimawandel zu tun. Dabei wollen viele Leute etwas für die Umwelt tun, nur hat hier das, was wir derzeit relativ verlässlich tun – etwa Mülltrennung –, nur einen kleinen Effekt. Es gibt dennoch Hoffnung, weil sich einige Menschen sichtlich einsetzen.

STANDARD: Wie sähe Ihrer Ansicht nach das Best-Case-Szenario für die Zukunft aus?

Crouch: Es gäbe eine Mehrheit der Bürger, die für eine bessere Umwelt und gegen Nationalismus sind. Und Parteien, die verstehen, dass sie den Sozialstaat zusammen mit den neuen Fragen, die sich stellen, stärken müssen. Parteien müssen kommunizieren, dass wir als individuelle Nationen gar nichts tun können. Wir müssen international zusammenarbeiten, in Bezug auf das Klima, das Finanzsystem. Es gibt so viele Bereiche der Politik, wo wir internationale Zusammenarbeit benötigen. Das müssen Politiker vermitteln. Tony Blair ist in Großbritannien sehr aktiv gegen den Brexit. Aber als er Premierminister war, hat er nie gesagt, wir brauchen die EU und müssen hier besondere Ziele erreichen. Es hieß immer: Wir kämpfen gegen die EU! Jetzt hat er eingesehen, dass das ein Fehler war. Das kommt zu spät. Unsere Politiker müssen akzeptieren, dass wir nicht allein auf dieser Welt sind.

STANDARD: Und der Worst Case?

Crouch: Im schlimmsten Fall wird der Nationalismus immer stärker und führt auch zu einem wirtschaftlichen Protektionismus. Dann ist es nicht mehr weit zu der Situation, in der Nationen es einfacher finden, sich zu verfeinden. Dann kann es zu Krieg kommen, wie aktuell zwischen Pakistan und Indien. Protektionismus führt aber auch zu größerer Armut und schwächerer Wirtschaft. (Julia Sica, 21.3.2019)