Der Architekt Harry Seidler hat das Hochhaus Neue Donau geplant. Im Volksmund heißt es daher Seidler-Turm. Bis jetzt war die Sicht von dort bestens. Das wird sich bald etwas ändern.

Foto: Marietta Adenberger

Goldene Blätter prangen weithin sichtbar auf der weißen Aluminiumfassade – wie ein überdimensionales Segel ragt der Seidler-Turm in Kaisermühlen in den Wiener Himmel. Bei Schönwetter scheint er in den Himmel zu schneiden, strahlt aber auch bei Wolken eine eindrucksvolle Imposanz aus.

Was für die einen ein perfektes Fotomotiv ist, ist für die anderen das perfekte Zuhause – zumindest bis vor kurzem. Denn die überdurchschnittliche Wohnzufriedenheit, die sowohl Bewohner als auch die Hausverwaltung Arwag bestätigen, ist getrübt, seitdem im Dezember mit dem Bau der Danube Flats begonnen wurde: Direkt gegenüber in der Blickachse auf die Reichsbrücke entsteht auf dem Abbruchgelände des ehemaligen Cineplexx-Kinos ein 160 Meter hoher Turm mit 49 Stockwerken.

Eingeschränkte Sicht

Für manche Bewohner des Seidler-Turms, die bis jetzt mit Rundumblick auf Innenstadt und Donau gesegnet waren, ist das eine ungewohnte Sichteinschränkung, die in naher Zukunft so manchen Blick trüben wird. "Auch wenn die Danube Flats noch so toll sind und die versprochene Aufwertung der Infrastruktur – Fakt ist, mit nur 43 Meter Distanz zum Seidler-Turm hat man ein Vis-à-Vis, egal ob im dritten oder 20. Stock", moniert einer der betroffenen Eigentümer.

Staub und Lärm

Beim Standard-Lokalaugenschein an der Wagramerstraße kommt wenig Freude bei den darauf angesprochenen Bewohnern auf, die gerade das Wohnhaus verlassen. Ein Mieter aus dem siebten Stock bekrittelt den Lärm der laufenden Abbrucharbeiten des ehemaligen Kinos und die ständigen Staubablagerungen, die er und seine Frau jeden Tag von den Fenstern wischen. Ein Bewohner aus dem 17. Stock meint: "Wir werden zwar immer noch gute Sicht haben, aber unser Lieblingsblick Richtung Reichsbrücke wird verschwinden, das ist sehr schade." Ob er deswegen ausziehen will? "Nein, wir sind zu bequem und außerdem haben wir hier alles: U-Bahn, Donau und den Arbeitsplatz gleich in der Nähe."

Hauch von Alltagsluxus

Auch im Eingangsbereich des Wohnhauses herrscht das Flair von alltäglichem Luxus: Ein Portier, eine gemütliche schwarze Ledersitzgruppe auf einem großen roten Teppich und ein Gemälde an der Wand erinnern eher an ein Hotel oder Serviced Apartments als an geförderten Wohnbau. Die aufgelegten Verhaltensregeln für Sauna, Fitness- und Gemeinschaftsraum ebenso.

Für SPÖ-Bautensprecherin Ruth Becher ist der Turm "ein Symbol für die Vielfalt", die in Wiens Wohnbau möglich ist. So ganz versteht sie die Aufregung um die Sichteinschränkung nicht, denn erstens müsse man im urbanen Raum immer damit rechnen und zweitens habe es ursprünglich Pläne des Architekten für drei Türme gegeben. Das ist auch auf Projektunterlagen aus den 1990er-Jahren zu sehen.

Seidlers visionäre Idee

Lebensqualität für alle, lautete die Idee des Planers Harry Seidler. Offiziell heißt das Gebäude Hochhaus Neue Donau, im Volksmund wird es Seidler-Turm genannt. Der mittlerweile verstorbene jüdische Architekt wurde 1923 in Wien geboren und musste später mit seiner Familie emigrieren. Ende der 1990er wurde das Hochhaus Neue Donau nach seinen Plänen erbaut. Damals war es das Vorzeigemodell für einen Wohnbau mit sozialer Durchmischung; und heute noch wird es auch von internationalen Experten wie der Vorsitzenden der Europäischen Mietervereinigung, Barbara Steenbergen, als Vorbildprojekt für gelungene gemischte Nutzung angesehen.

Auch der nachbarschaftlich anschließende Wohnpark Neue Donau wurde von Seidler geplant. Jeder Bewohner der fünf- bis neungeschoßigen Zeilenbauten hat einen Blick auf die Neue Donau. Seidlers Credo: Blick und beste Lage mit den Annehmlichkeiten von Gemeinschaftseinrichtungen nicht nur für die oberen Zehntausend, sondern auch für Normalverdiener.

Wohnungsverteilung im Turm

Im Rahmen der Erstvermietung gab es im Turm laut Daten des Bauträgers und Hausverwalters Arwag 109 frei finanzierte und 30 geförderte Eigentumswohnungen sowie 90 geförderte Mietwohnungen. Im untersten Viertel des Turmes befinden sich Büros und 128 von der Migra gepachtete Wohnheimapartments für temporäres Wohnen, die der Bank Austria Real Invest gehören. Darüber liegen die geförderten und frei finanzierten Mietwohnungen, noch etwas weiter oben die geförderten Eigentumswohnungen, im letzten Viertel das freifinanzierte Eigentum. Ganz oben, unter dem Dach des 150 Meter hohen 33-geschoßigen Gebäudes, thronen fünf Penthouses.

Leistbarkeit je nach Vergabe

Ein Blick auf den Nutzungsstand heute zeigt, dass 50 geförderte Mietwohnungen mittlerweile ins Eigentum übergegangen sind. Aktuell kommt eine geförderte 67-m²-Wohnung auf 591 Euro Miete mit ca. 500 Euro Eigenmitteln pro Quadratmeter. Eine ähnlich große, über einen Immobilienvermittler aktuell angebotene Wohnung im 23. Stock kommt auf 1200 Euro warm, inklusive Garagenplatz.

Momentan dominiert noch das Baustellenflair rund um den Turm. Die Entwickler S+B und Soravia bewerben das Projekt u. a. mit der entstehenden, auch für die Anrainer nutzbaren, Infrastruktur wie Supermarkt, Kindergarten und Gastronomie.Wie die Bewohner des Seidler-Turms mit dem neuen, noch höheren Nachbarn – dem höchsten Wohnturm Österreichs – und vor allem dem getrübten Blick klarkommen werden, wird sich aber erst 2023 zeigen, wenn die Danube Flats fertiggestellt sind.

Für Sommer 2019 ist der Vergabestart der rund 600 Apartments mit Größen von 30 bis 230 m² geplant. Neben geförderten Smart-Wohnungen und Serviced Apartments wird es auch Eigentumswohnungen geben. Um eine davon wird sich der Mieter des siebten Stocks des Seidler-Turms bewerben: "Das ist hier die beste Lage Wiens. Dann ziehe ich eben ein paar Meter weiter und schaue wieder unverbaut in die Stadt." (Marietta Adenberger, 17.3.2019)