Ist uns das Morgen nur noch zumutbar, wenn es im Mutmach-Frame und Wohlfühl-Layout daherkommt?

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Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Gesellschaftsutopie für freie Menschen
€ 22,– / 320 Seiten
Fischer Verlag, Berlin 2019

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Wenn sich ein Sachbuch im Klappentext als "Mut machend" anpreist, schrillen bei der kritischen Leserin die Alarmglocken. Ich will keinen Mut – ich will Fakten. Ich will keinen Optimismus – ich will Wissenschaft. Diese freundlichen Farben auf dem Cover! Diese heiteren Wölkchen mit ihrer hinreißenden Freundlichkeit. Zum Davonlaufen. Steht es wirklich schon so schlecht um uns, dass wir Motivationsparolen und heitere Wölkchen brauchen, um uns mit unserer Zukunft beschäftigen zu können? Ist uns das Morgen nur noch zumutbar, wenn es im Mutmach-Frame und Wohlfühl-Layout daherkommt? Doch dann greift meine gut geschulte Affektkontrolle. Sie sagt: Erst lesen, dann schimpfen. Also: Nur Mut, Buch auf.

Die Klimakatastrophe ist kaum aufzuhalten, Tier- und Pflanzenarten sterben aus, weltweit nimmt die Ungleichheit zwischen Arm und Reich rapide zu. Gründe zum Verzweifeln? Nein, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer.
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Fairerweise muss man sagen, dass Harald Welzer medial zwar gern als "Starsoziologe" und "Zukunftsarchitekt" gehandelt wird, in Wahrheit aber grundsolide Dinge macht. Sich für die offene Gesellschaft zu engagieren zum Beispiel. Oder Transformationsdesign an Unis unterrichten. Vor allem aber lehrt und forscht er zu Erinnerungs- und Gedächtniskultur, zu Holocaust und rechter Gewalt. Das hat schon alles Hand und Fuß, Hirn und Herz.

Eher unterkomplex

In Alles könnte anders sein beschreibt Welzer also eine Zukunft, in der es sich zu leben lohnte – nicht finanziell, sondern natürlich menschlich gemeint. In seiner "Gesellschaftsutopie für freie Menschen", wie er das Buch un tertitelt, widmet er sich kapitelweise den großen Fragen der Gegenwart und spinnt sie fort – in eine nicht allzu ferne Zukunft. Migration, Klimawandel, Gerechtigkeit, Grenzen, Wirtschaft – Welzer spricht die Zentralthemen des menschlichen Zusammenlebens an. Das ist ihm anzurechnen. Die Ausführungen dazu sind dann mitunter leider unterkomplex. So schreibt Welzer im Kapitel "Mi gration realistisch" etwa: "Wenn man sich beispielsweise die Besiedlung eines fernen Planeten vorstellen kann, warum dann nicht etwas so Einfaches wie eine Welt ohne Grenzen?" Das ist ein bisschen gar viel freundliches Fabulieren.

Erster Schritt. Und dann?

Natürlich, es ist schon viel gewonnen, wenn wir uns eine gute Zukunft für alle erst einmal vorstellen und konkret beschreiben, wie Welzer es mit seinem Buch als ersten Schritt vorschlägt. Das macht mehr Freude und vielleicht auch Sinn als das untergangsverliebte Beschwören der Apokalypse. Aber ist die positive Einladung zum konstruktiven Spintisieren über das Morgen einmal erfolgreich ausgesprochen, sollten konkrete Ansagen folgen. Sonst bleibt die Zukunft erst recht ein Wolkenkuckucksheim. (Lisa Mayr, 14.3.2019)