Kann man von den Kaimauern etwas über den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft ablesen?

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Die Kaimauern am Wiener Donaukanal sind seit eh und je Ausstellungsflächen für Straßenkünstler. Diese malen ihre Werke überlebensgroß auf die grauen Wände, übermalen, was die Vorgänger geschaffen haben, und bieten den Passanten auf diese Weise eine stetig wechselnde Dauerausstellung besonderer Art an. Was seit einiger Zeit auffällt: Die Bilder und Graffiti werden politischer, und unter den Künstlern sind offensichtlich immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund.

Wer in der Vorfrühlingssonne über die Kanalpromenade spaziert, kann zurzeit unter anderem Folgendes bewundern: die Aufschrift "Free the Catalonian Prisoners!". "PKK!" (die verbotene kurdische Widerstandsbewegung in der Türkei). Ein ambitioniert gemaltes riesiges Wandgemälde in vielen verschiedenen Rottönen, darstellend ein trauriges dickes Mädchen, dem eine junge Frau mit Hidschab-Kopftuch tröstend den Arm um die Schultern legt. Auf dem nackten Arm des dicken Mädchens steht "Get thin, you fat piece of shit". Und in der Sprechblase der Kopftuchfrau: "Don't be sad, I know how you feel". War der Künstler, die Künstlerin eine Frau? Eine Feministin? Eine Migrantin? Welche Geschichte steckt hinter dem Gemälde?

Aber es gibt auch Straßenkunstwerke mit antimigrantischer Botschaft. Ein Bild zeigt ein Polizeiauto, durch die Fenster sieht man viele Frau- en mit schwarzem Kopftuch, offensichtlich Gefangene, die abtransportiert werden. Daneben die Aufschrift "Danke!". Die Kaimauern kennen keine politische Korrektheit. Jeder kann malen, was er will.

Ist es Zufall, dass viele ältere Straßenkunstwerke und ihre Inhalte weniger politisch, dafür eher persönlich waren?

Straßenkunst am Donaukanal

Eines der übermalten Bilder am Donaukanal zum Beispiel zeigte ein scharz-weißes Monster mit Riesennase, dazu die Aufschrift: "I can already smell your unhappiness". Und, die allertraurigste Botschaft, ebenfalls inzwischen übermalt: "Warum lebe ich, warum sterbe ich nicht einfach weg?". Man wüsste gern, wer der Autor war, was sein Schicksal war, was aus ihm geworden ist. Aber das geben die Ausstellungsmauern nicht preis.

Es sind vor allem junge Leute, die sich der Straßenkunst widmen. Manchmal kann man sie am Werk sehen, eifrig arbeitend, mit Farbkübeln und Pinseln ausgestattet. Kunstschüler sind dabei, aber vor allem Amateure. Manches, das sie schaffen, lässt Begabung und Originalität erkennen. Eine Szene, jenseits vom offiziellen Kulturbetrieb, von Galerien, Museen, Förderungen und beamtetem Kunstgeschmack. Und das Publikum dieser Freiluftausstellungen sind nicht die interessierten Kunstfreunde, die sich Eintrittskarten für Ausstellungen kaufen, sondern alle, die zufällig vorbeigehen. Wanderstockbewehrte Pensionisten, Jogger, Liebespaare, Kinder. Die meisten ignorieren die bemalten Wände, aber einige bleiben stehen, lachen, diskutieren.

Kann man von den Kaimauern etwas über den gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft ablesen? Ist die Straßenkunst so etwas Ähnliches wie das gemalte Äquivalent der sozialen Medien? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 6.3.2019)