Polyplacotoma mediterranea sieht gänzlich anders aus als die beiden anderen bekannten Plattentier-Arten.

Foto: Hans-Jürgen Osigus

Zum Vergleich: Trichoplax adhaerens. Das Lebewesen wurde 1883 in einem Meerwasser-Aquarium des Zoologischen Instituts in Graz entdeckt.

Foto: Stanford University

Hannover – Lange Zeit hielt man Placozoa oder Plattentiere für Jugendstadien von Nesseltieren – ein Irrtum, der erst in den 1970er Jahren aufgeklärt werden sollte. Damals stellte sich heraus, dass es sich bei diesen strukturell einfachsten aller vielzelligen Tiere um einen eigenen Tierstamm handelt. Genetische Untersuchungen lassen zwar den Schluss zu, dass die Placozoa zahlreiche Arten umfassen. Nachdem diese sich aber morphologisch praktisch nicht unterscheiden lassen, wurden bisher nur zwei Gattungen mit je einer Art beschrieben. Nun jedoch haben deutsche Wissenschafter im Mittelmeer an der Grenze zwischen Italien und Frankreich eine weitere Plattentier-Spezies entdeckt: Polyplacotoma mediterranea.

Die Tiere besitzen einen vielverzweigten Körper und können etwa einen Zentimeter lang werden. Die Wissenschafter um Bernd Schierwater von der Tierärztlichen Hochschule Hannover stellten bei ihren Untersuchungen fest, dass sich Polyplacotoma mediterranea in seiner Gestalt und seinem Erbgut deutlich von den beiden bekannten Plattentierarten unterscheidet und ordneten das Tier daher der neuen Gattung Polyplacotoma zu.

Plattentiere sind vielzellige Tiere, die weder einen Kopf noch einen Rumpf oder einen Schwanz besitzen. Symmetrisch aufgebaut sind sie ebenfalls nicht. Ihr Lebensraum erstreckt sich von der Südküste Australiens bis hinauf zur Atlantikküste Frankreichs. Plattentiere sind meist nur wenige Millimeter groß und ernähren sich von Biofilmen, die sie von harten Unterlagen wie Muschelschalen, Steinen oder Korallen ablösen. Da sie keine Organe, keine Muskelzellen und kein Nervensystem ausbilden, obwohl sie entsprechende Erbanlagen besitzen, sind sie interessante Forschungsobjekte für verschiedene biologische Fragestellungen.

Bewegliches Pilzgeflecht?

Erste Hinweise, zu welcher Gruppe von Lebewesen Polyplacotoma mediterranea gehört, erkannten die Wissenschaftler unter dem Lichtmikroskop. "Die einzelnen Verästelungen erinnern an ein Pilzgeflecht, bewegen sich jedoch wie bei einem Tier", sagt Schierwater. Um festzustellen, wo das Lebewesen systematisch einzuordnen ist, analysierte das Forscher-Team seine mitochondriale DNA. Mitochondrien sind die energieproduzierenden Strukturen einer Zelle und besitzen ihr eigenes Erbgut. Anhand dieses Erbgutes konnte schließlich nachgewiesen werden, dass Polyplacotoma mediterranea ein Plattentier ist.

Trichoplax adhaerens und Hoilungia hongkongensis – so heißen die beiden anderen Plattentierarten – besitzen eine klare Polarität. "Das heißt, ihr kompakter scheibenförmiger Körper kann in ein Oben und ein Unten eingeteilt werden", erklärt Schierwater. Die neue Art besitzt hingegen keine kompakte Scheibenform und ist stark verzweigt. "Wir sammelten das Lebewesen in einer Zone mit ungewöhnlich starker Brandung. Es scheint sich an diese Umgebung angepasst zu haben, indem es seinen Körper in lange Verzweigungen auszieht. Diese verankern sich in kleinen Hohlräumen und Ritzen des Gesteins und geben dem Tier Halt", vermutet Schierwater.

Neuentdeckung gibt Rätsel auf

Auch genetisch unterscheidet sich Polyplacotoma mediterranea von den bekannten Plattentierarten. "Wir konnten unter anderem feststellen, dass das Erbgut in den Mitochondrien seiner Zellen nur halb so groß ist wie das anderer Plattentiere", berichtet Hans-Jürgen Osigus, Doktorand in Schierwaters Arbeitsgruppe und Erstautor der im Fachmagazin "Current Biology" veröffentlichten Studie. "Zudem zeigt es Merkmale eines sehr ursprünglichen Erbgutes." Aufgrund dieser Unterschiede schufen die Wissenschaftler für die neue Tierart die neue Gattung Polyplacotoma. Darüber hinaus sehen Schierwater und Osigus die Chance, mithilfe der neuen Tierart mehr über die frühe Evolution der Vielzeller zu erfahren.

Die Entdeckung der TiHo-Forscher wirft wichtige neue Fragen auf. "Wir wissen beispielsweise noch nichts über den Lebenszyklus des Tieres oder wie es sich ernährt", erläutert Osigus. Normalerweise nehmen Plattentiere Nahrung auf, indem sie eine große temporäre Verdauungshöhle zwischen Körperscheibe und Untergrund ausbilden. Aufgrund seiner verzweigten Körperform ist dies für Polyplacotoma mediterranea nicht ohne Weiteres möglich. Darüber hinaus ist es schwierig, das Tier im Labor zu untersuchen: "Es ist sehr fragil, nimmt die übliche Nahrung nicht auf und vermehrt sich bei uns nur sehr langsam – selbst, wenn wir versuchen, die Kulturbedingungen so natürlich wie möglich zu gestalten", berichtet Osigus. (red, 5.3.2019)