Eva Schloss, Stiefschwester von Anne Frank, im Jänner zu Besuch im Historischen Museum in Schweden: Nicht sie, ihr Bild in 3D beantwortet alle Fragen über ihre Biografie.

Foto: National Historical Museum / Erik Lernestål

Aaron Elster vor seinem "Hologramm": Man kann jetzt immer mit ihm sprechen.

Foto: Ron Gould Studios / Shoah Foundation / Illinois Holocaust Museum & Education Center

Wer das Illinois Holocaust Museum besucht, kann sich mit Aaron Elster unterhalten. Jederzeit, zu den Öffnungszeiten. Er ist präsent, aufmerksam, freundlich. Er erzählt, wie es war, als ihn nach seiner Flucht aus dem Ghetto in Polen Frau Gorski vor den Nazis versteckt hatte. Er berichtet, was mit seiner kleinen Schwester geschah. Und er verrät, dass die Gerstensuppe, die seine Frau im Winter für ihn kocht, sein Lieblingsgericht ist. Er hört zu, nickt, antwortet, manchmal bewegt er seine Hände, manchmal zwinkert er. Die Möglichkeit, ins Museum zu spazieren und mit Aaron zu sprechen, hat etwas Tröstliches. Denn der Holocaust-Überlebende ist im April 2018 im Alter von 86 Jahren in Illinois verstorben.

Natürlich spricht nicht Aaron selbst zum Besucher, sondern eine 3D-Version von Aaron. Mit spezieller Rundumkameratechnik gefilmt, hat man den Eindruck, der echte Aaron sitze vor einem. Er reagiert auf Fragen, weil eine spezielle Sprachsoftware Stimmen erkennt und mit dem kombiniert, was Aaron einmal bei einem langen Interview zu seiner Flucht- und Vertreibungsgeschichte erzählt hat. Der Effekt sei enorm, sagte Josh Grossberg, Direktor der Shoah Foundation in Kalifornien, vor kurzem zu einem US-TV-Sender: "Die Leute lachen, weinen, bedanken oder entschuldigen sich für die Gräuel der Vergangenheit." Damit ist viel erreicht in Zeiten, da der Antisemitismus weltweit steigt – und die meisten Zeitzeugen bereits verstorben sind.

USC Shoah Foundation

Steven Spielberg gefällt diese neue Art der Geschichtsvermittlung bestimmt. Der Hollywood-Regisseur und Begründer der Shoah Foundation in Kalifornien hat bekanntlich ein inniges Verhältnis zu bewegten Bildern und bewegenden Geschichten. Spielberg hat die Foundation 1994 als gemeinnützige Organisation gegründet, mit dem Ziel, weltweit und in großem Umfang Schilderungen von Überlebenden des Holocaust auf Video aufzunehmen, um sie nachfolgenden Generationen als Unterrichts- und Ausbildungsmaterial zugänglich zu machen. Mit dem neuen Verfahren von 3D-Biografien wird nun eine neue Phase der Oral History eingeläutet.

Aaron Elster ist nicht der einzige Überlebende, dessen Geschichte so erzählt wird. Insgesamt 19 Personen, allesamt hochbetagt, haben sich der sehr aufwendigen Prozedur bereits unterzogen. Sie alle treibe das Bedürfnis an, "ihr Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben", sagt Foundation-Sprecherin Karen Jungblut zum STANDARD.

Das Interview dauert fünf Tage und nimmt täglich mehrere Stunden in Anspruch. Die Interviewten sitzen in einem mit grüner Folie ausgelegten mobilen Studio mit vielen Kameras.

Erschöpfendes Verfahren

1000 bis 1500 Fragen werden den Zeitzeugen gestellt, deren Beantwortung dauert mehrere Stunden täglich. Das ist für die betagten Damen und Herren enorm anstrengend – nicht nur körperlich, vor allem emotional und psychisch. "Wir gehen sehr behutsam vor", sagt Jungblut, "wir nehmen uns viel Zeit, um das Projekt zu erklären, und wir bitten die Überlebenden, zu den Aufnahmen immer mit engen Vertrauten oder Familienangehörigen zu kommen." Die Aufnahmen könnten zudem, sagt Karen Jungblut, jederzeit unterbrochen werden, wenn sich die Interviewten nicht wohlfühlen. Es dauert eben seine Zeit, bis aus einem echten Überlebenden ein "real hologram" wird, wie es in einigen Youtube-Videos über das Projekt heißt.

Die Shoah Foundation spricht lieber von "neuen Dimensionen der Erinnerung" als von Hologrammen. Die Rundumkameratechnik der Aufnahmen vermittelt ein ähnliches 3D-Bild, aber gleichzeitig auch viel mehr. Es handelt sich nicht um etwas Künstliches: Vor dem Besucher sitzt ein Mensch, kein Avatar. Es hat nichts Künstliches, es ist das reale Zeugnis eines Zeitzeugen. Mithilfe intelligenter Spracherkennungssoftware entsteht tatsächlich eine "neue Dimension" von Zeitgeschichte. Dazu kommt der inhaltliche Aspekt: Die Fragen hat ein Forscherteam genau ausgearbeitet, man deckt ein möglichst weites Themenfeld ab. Das Spracherkennungsprogramm "lernt", das heißt, dass die Fragen der Besucher mit jenen Antworten gematcht werden, welche die meiste Überschneidung haben. Mit der Zeit wird die interaktive Biografie so angereichert: Relevanz und Geschwindigkeit der Antworten wächst. Die Schüler und Studierenden, an die sich das Projekt in der Hauptsache richtet, sollen so die Möglichkeit bekommen, Zeitgeschichte aktiv zu lernen – und auch ihre Fähigkeit, kritische Fragen zu stellen, zu entwickeln.

Digital Trends

Vor zehn Jahren wurde das Projekt gestartet, einige private Stiftungen unterstützen es finanziell. Es gibt eine Kooperation mit dem Institut für Kreativtechnologien an der USC und Kooperationen mit mehreren Holocaust-Museen in den Vereinigten Staaten. Darunter ist auch jenes von Illinois, an dem Aaron Elster tätig war.

Bezüglich der Kosten gibt man sich in der Shoah Foundation wortkarg. Das hänge vom Setting ab, sagt Jungblut. 19 vollendete interaktive 3D-Zeitzeugen-Interviews existieren bereits, 18 mit Holocaust-Überlebenden, eines mit einer Überlebenden des Nanking-Massakers während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges 1937. Angesichts von 54.000 bereits existierenden Videos mit Überlebenden erscheint das nicht viel. Doch es sei nicht möglich, diese "umzurüsten", sagt Karen Jungblut: "Man müsste Aussagen herausgreifen, sie anders ordnen – damit ginge die Authentizität verloren."

Ohnehin wird nicht geplant, die interaktiven Biografien zu einem massentauglichen Geschichtsunterricht 2.0 werden zu lassen. Der "Dialog" mit den Überlebenden muss in den Kontext eines Museums eingebettet sein, darüber ist man sich in der Shoah Foundation einig. Das gilt auch für die ersten europäischen Gehversuche, die das Projekt macht. Ende Jänner gastierte es unter dem Titel "Sprechende Erinnerungen" im Historischen Museum von Schweden in Stockholm. Die Besucher konnten sich dort, moderiert von einem Historiker des Museums, mi Eva Schloss unterhalten. Die 90-jährige, gebürtige Wienerin ist Holocaust-Überlebende und die (posthume) Stiefschwester von Anne Frank. Sie überlebte den Naziterror nur knapp – nach dem Zweiten Weltkrieg heiratete ihre Mutter den Vater von Anne Frank, Otto.

Skepsis in Österreich

Auch zur Gedenk- und Forschungsstätte Mauthausen gibt es Kontakte. Im Vorjahr hat die Foundation ihr Projekt in Österreich vorgestellt. Doch die Skepsis österreichischer Zeitgeschichteexperten ist groß – in Deutschland ist die Reaktion ähnlich. Die Kritik entzünde sich vor allem daran, dass mit den 3D-Dialogen "eine Realität simuliert wird, die es so nicht mehr gibt, wenn die Zeitzeugen einmal nicht mehr leben", sagt Barbara Glück, die Leiterin des Mauthausen-Memorials. Dazu kommen der hohe zeitliche Aufwand und die angenommenen Kosten eines solchen Projekts. Außerdem müsste man die Interviews noch um spezifische Fragen erweitern, die österreichische Schüler interessieren können, sagt auch Karen Jungblut von der Shoah Foundation: "Man kann die Fragen nicht nur übersetzen." Im Lichte aktueller politischer Debatten wären das dann wohl auch Fragen bezüglich Kopftuch, Islam oder – klassisch, beim Thema: "Was empfinden Sie heute gegenüber Österreichern/Deutschen?" – um einige Beispiele zu nennen.

Dies wiederum findet Mauthausen-Memorial-Chefin Glück interessant. Denn es sei ohnehin State of the Art der Geschichtsvermittlung, den jugendlichen Besuchern der Gedenkstätte eine wichtige Frage mitzugeben: "Was hat das alles, was vor fast 80 Jahren passiert ist, mit mir zu tun?" Auf der Vermittlungsebene müsse man viele neue Wege gehen, damit das Thema auch für nachfolgende Generationen brisant und relevant bleibe. Ein Audioguide, der in zwölf verschiedenen Sprachen durch die Gedenkstätte führt, ist ein Schritt, der weitere Ausbau multimedialer und interaktiver Informationsangebote ein nächster. Ob irgendwann Mauthausen-Überlebende in 3D interaktiv mit Besuchern diskutieren werden auf eine Weise, wie sie auch Steven Spielberg gefallen würde? Glück: "Es gibt bisher zu wenige Erfahrungen damit. Aber wir sind vorsichtig offen." (Petra Stuiber, 3.3.2019)