Im klugen Spiel mit theatralen Möglichkeiten setzt das Ensemble Unpop das Publikum auf die Hinterbühne.

Foto: Ensemble für unpopuläre Freizeitgestaltung

Applaus, Gute-Laune-Jingle, Spot an! Ein gebeugter Mann steuert seinen Elektrorollstuhl auf die Bühne, umfährt die bodenlangen silbernen Glitzerstreifen, die vom Bühnenhimmel hängen. Der Lyriker Felix Leu werde ein Gedicht rezitieren, kündigt die Moderatorin an, ach ja, er leide an amyotropher Lateralsklerose. Leu drückt sich eine elektronische Sprechhilfe an den Hals und schnarrt los, monoton ablesend vom dicken Papierstapel, und es hört nicht mehr auf. Felix Leu (wunderbar stoisch: Jens Ole Schmieder) schnarrt und schnarrt, sein Atem knarzt "huuu-huuu", immer verkrampfter schnappt er nach Luft. Das ist böse, grandios überzogen, absurd komisch – alles nur Theater!

In dieser Szene schält Regisseur Stephan Kasimir exemplarisch heraus, was Wolfram Lotz in seinem mehrfach preisgekrönten Debüt Der große Marsch (2011 uraufgeführt) verhandelt: Was ist Theater, was ist Wirklichkeit, wer sind wir? Der 38-Jährige ist derzeit einer der am meisten gespielten Autoren des deutschsprachigen Theaters. Man kann das Stück auch als große Parodie, als Abrechnung mit dem modernen Regietheaterbetrieb lesen. Doch Lotz hat mehr hineingepackt.

Als Zuschauer im Spiegelkabinett

Dem Ensemble für unpopuläre Freizeitgestaltung – kurz: Unpop – gelingt in der Regie von Stephan Kasimir im Dornbirner Kulturhaus ein kluger Zugriff. Kasimir und seine Ausstatterin Caro Stark haben Unpop 2016 gegründet und es als wichtige Stimme in der Vorarlberger freien Szene etabliert. Unpop will ein junges Publikum aus den Clubs ins Theater bringen.

Autor Lotz spielt mit theatralen Möglichkeiten. Als Zuschauer fühlt man sich wie in einem Spiegelkabinett: Was ist schon echt an den fiktiven Charakteren auf der Bühne? In Der große Marsch treten Bankchef Josef Ackermann und "echte Sozialhilfeempfänger" auf. Oder die Mutter des Autors (herrlich resolut: Elisabeth Pedross), Revoluzzer Bakunin und Prometheus.

Kraft der Dialoge

Kasimir und Stark entschlacken Lotz' Vorlage von allen unmöglichen Regieanweisungen, konzentrieren sich ganz auf die Kraft der Dialoge – nehmen so aber ein wenig Witz und Absurdität aus dem Abend. Die Bühne: ein billig glitzerndes Universum aus schnürbodenhohen Alufolienstreifen, die im Luftzug sacht rascheln. Eine Moderatorin (Christina Scherrer) führt durch diesen Reigen der Pseudowirklichkeiten, drängt wie in einer schlechten TV-Talkshow die Gäste ins Klischee und auf die Bühne.

Es endet in Desillusionierung – und mit einem starken Bild. Die Bühne: leer. Dann fährt der blaue Horizont nach oben, öffnet den Blick in den eigentlichen Zuschauerraum des Dornbirner Kulturhauses – und es wird jedem klar: Wir sitzen auf der Hinterbühne, vor der Brandmauer – wir sind die Fiktion des Abends. Wir sind gar nicht das Publikum. Was für eine Wirklichkeit! (Julia Nehmiz, 23.2.2019)