Ihr Engagement für die Sache der Palästinenser ermuntert US-Philosophin Judith Butler dazu, Israel als Land zu betrachten, das Kolonialismus betreibt.

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Vor 15 Jahren erschien erstmals der Sammelband Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, herausgegeben unter anderen von Doron Rabinovici und Natan Sznaider. Die Autoren des unverzichtbaren Buches begaben sich systematisch auf die Suche. Sie fahndeten nach Anhaltspunkten für das Übel. Dieses sorgte nicht nur im Nahen Osten für Schlagzeilen. Es machte auch in Europa mit neuer, für nicht mehr möglich gehaltener Vehemenz von sich reden. Belege für eine judenfeindliche Einstellung, die sich nicht ausschließlich in der Kritik der Sicherheitspolitik Israels erschöpft, fanden die Herausgeber zuhauf.

Der überarbeitete Band enthält heute, anno 2019, nicht nur eine Vielzahl der ursprünglichen Originalbeiträge. Eine Reihe von Autorinnen und Autoren hat ihre damaligen Betrachtungen einer Revision unterzogen. US-Philosophin Judith Butler hat sogar einen zur Gänze neuen Beitrag abgeliefert. Ihr Text sticht umso greller heraus, als er sich gegen Israel mit unerschütterlicher Beharrlichkeit ins Zeug legt.

Butler macht für ihr Engagement gegen Israels "Kolonialismus" ausgerechnet universelle Gründe stark. Die Meisterin der Dekonstruktion beansprucht für sich, ganz allgemein antirassistisch zu argumentieren. Sie tut das, indem sie das Verhalten israelischer Behörden im Gazastreifen und im Westjordanland gleichsetzt mit dem gewalttätigen Gebaren jeder beliebigen anderen kolonialen Zwangsmacht.

Antisemiten und Pro-Zionisten

Butlers bedingungslose Unterstützung der gegen Israel gerichteten Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) speist sich aus der zunächst verblüffenden Einsicht, dass sich unter den internationalen Parteigängern Israels heute mehr Antisemiten finden, als Schulweisheit es sich träumen lässt. Fast schon obszön daher der "Pro-Zionismus" von Donald Trump und Konsorten. Eine solche Denkhaltung preist die Wehrhaftigkeit des jüdischen Staates und hätschelt damit bloß die eigene, strikt antimuslimische Gesinnung.

Doch natürlich richten sich Initiativen der BDS unterschiedslos auch gegen Angehörige und Einrichtungen der israelischen Zivilgesellschaft. In Mitleidenschaft gezogen werden dadurch nachdrücklich jene, die an den aktuellen Ausprägungen der Likud-Politik (Stichwort Siedlungspolitik) Kritik üben, und zwar auf Basis liberal-demokratischer Maßgaben.

Kaum mitreflektiert wird von Butler der verstörende Kern des "neuen", nicht bloß muslimischen Antisemitismus. Er bebildert ein Unbehagen (das sprachlos bleibt). Er aktualisiert die abstoßenden, ehemals christlich tradierten Bilder vom Juden als Brunnenvergifter und Ritualmörder, um die eigene Weigerung, die Moderne zu verstehen, mit dem Antlitz eines altbekannten Feindes zu illustrieren.

Hass aus alten Quellen

Für die alleinige Überzeugungskraft universeller Rechte, wie Butler sie vertritt, lässt ein solcher, zum Teil aus Naziquellen gespeister Judenhass kaum Platz. Nicht nur, dass in Ländern wie Frankreich die Zahl von Anschlägen auf Juden und jüdische Einrichtungen merklich steigt. Als Folge der Migrationsbewegungen wird seit geraumer Zeit der Import eines islamisch tradierten Antisemitismus zu Protokoll gegeben.

Unleugbar ist die Zunahme jihadistischer Attentate. Verblüffend aber auch die völlig ungehemmte Verbreitung antisemitischer Codes durch europäische Nationalisten. Eine solche passiert zum Beispiel dann, wenn die ungarische Koalition unter Viktor Orbán zu der Auffassung gelangt, sie müsse aus Gründen der nationalen Selbstachtung gegen den Millionär und Philanthropen George Soros zu Felde ziehen.

So wie alle anderen

Die Tabuzonen, innerhalb derer man das antijüdische Gift bis vor kurzem nicht mehr auszustreuen wagte, schrumpfen zusammen. Immer wieder notwendig erscheint der Hinweis der Herausgeber auf die alte, klärende Einsicht von Georg Simmel. Dieser Gründer der modernen Kulturphilosophie beschrieb einst als Krux des global verteilten jüdischen Volkes, dass es seine Vertrautheit sei, die es gegenüber anderen zu Fremden macht. Juden seien eben wie andere Leute, nur noch mehr. Die beunruhigende Lektüre des Readers Neuer Antisemitismus? zeigt, wie sich die übelsten Vorurteile, die man gegenüber Juden hegen kann, stets aufs Neue instrumentalisieren lassen. Mit dem Holocaust ist, wie der Historiker Dan Diner schreibt, der klassische, bekenntnishafte Antisemitismus zerstoben.

Aus seiner Konkurs- und Verfallsmasse klauben Europäer, aber eben auch die Widersacher Israels die ihnen jeweils genehmen Partikel des Ressentiments. Die globalisierte Welt fordert ihren Bewohnern schmerzliche Abstraktionsleistungen ab. Wie viel leichter fällt es da, die Juden für alle Übel verantwortlich zu machen. (Ronald Pohl, 21.2.2019)