Hofer an Henrys Freunde: "Drückt mir die Daumen."

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Ein Kind ist gestorben. Zwei Tage vor Beginn der Semesterferien, am 31. Jänner, auf dem Weg in die Schule, auf einem Zebrastreifen im dritten Wiener Gemeindebezirk, bei Grün. Ein Lkw fuhr ihn an, der Fahrer, der in die Landstraßer Hauptstraße einbog und ebenfalls Grün hatte, hat Henry einfach übersehen.

Der Schock, die Fassungslosigkeit, das Mitleiden mit seiner Familie, die hilflose Wut über den unbegreifbaren Wahnsinn, dass ein neunjähriger, strahlender, zukunftsfroher Bub stirbt, weil er zum falschen Zeitpunkt in den toten Winkel eines Lastwagenfahrers geriet – das alles legte sich leise, wie ein Schleier, erst über das Viertel, dann über den ganzen Bezirk. Die Unfallstelle wurde zur Trauerstätte, Blumen, Kerzen, Plüschtiere, Spielzeug und herzzerreißende Briefe an den kleinen Buben und seine Familie türmen sich, immer wieder bleiben Menschen stehen und halten stumm Andacht. Viele Gespräche auf der Straße, in der Trafik, in Tram oder U-Bahn drehen sich um diesen grauenvollen Unfall.

Starr vor Entsetzen

Wir, die Henry kannten, sind starr vor Entsetzen und Kummer, unsere Kinder traurig und konfus, weil der Freund ihnen fehlt. Jeden Tag. Vor dem Abgrund, der sich vor Henrys verzweifelten Eltern auftut, stehen diese nicht allein. Viele Menschen sind bei ihnen – in Gedanken, Tränen, Trauer, Wut.

Und weil viele dachten, das könne man doch nicht einfach so hinnehmen, ohne Konsequenz, haben binnen drei Wochen fast 70.000 Menschen die Petition unterschrieben, in der sie den Verkehrsminister auffordern, den Einbau von Abbiegeassistenten in Lkws vorzuschreiben. Um die Dringlichkeit zu unterstreichen, überbrachten Henrys Klassenkollegen Verkehrsminister Norbert Hofer die Petition und die Unterschriften.

Pro Jahr kommen durchschnittlich acht Kinder im Straßenverkehr ums Leben – drei davon als Fußgänger. 2018 starben 14 Menschen in Österreich bei Unfällen mit Lkws.

Hofer weckte Erwartungen

So traurig es ist, dass immer etwas passieren muss, bevor etwas passiert – diesmal schien es zumindest so, dass sich etwas ändern könnte. Wiens Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou versprach Hilfe in Form von Tempo-30-Zonen vor Schulen und kündigte an, den Wiener Fuhrpark umzurüsten. Die Autofahrer-Organisationen wanden sich erst ein wenig, um am Ende doch hinter der Forderung zu stehen. Sogar die Wiener Wirtschaftskammer unterstützte die Forderung. Nur die Bundeswirtschaftskammer, namentlich die Lkw-Lobby, war dagegen.

Die Lobby tat, was Lobbys immer tun: Sie schützte die "Interessen" ihrer Klientel, der Frächter und Spediteure – und die wollen in elektronische Abbiegeassistenten keinen Cent früher investieren, ehe die EU sie dazu verpflichtet. Die Kammerlobby machte ihre Sache gut. Verkehrsminister Norbert Hofer von der FPÖ, die sich gerne Bürgerpartei nennt, berief erst einen "Verkehrsgipfel" ein und pflanzte dann falsche Erwartungen in die Herzen von Henrys Freunden ("Drückt mir die Daumen!"), um sie gleich darauf im Stich zu lassen.

Norbert Hofer im "ZiB 2"-Interview bezüglich Abbiegeassistenten.
ORF

Hofer verpflichtete die Spediteure und Frächter zu gar nichts. "Freiwilligkeit" heißt seine Lösung, auch für Infrastrukturmaßnahmen, die die Kommunen setzen dürfen, aber nicht müssen. Gleich danach verkündete er in der "ZiB 2" seine eigene Wahrheit darüber, wie der Gipfel seiner Meinung nach gelaufen war: Laut Hofer sei kaum jemand für verpflichtende Umrüstung gewesen – die anderen Sitzungsteilnehmer widersprachen umgehend.

Gesamtkonzept für Sicherheit

Abbiegeassistenten können nicht jeden Unfall verhindern. Streichung von Parkplätzen im Kreuzungsbereich, Straßenrückbauten, eigene grüne Ampelphasen für Fußgänger, Zebrastreifen weg von der Kreuzungen zu setzen – das alles sind Einzelmaßnahmen, die für sich genommen zu wenig Effekte haben. Aber ein Gesamtkonzept, in das all diese Maßnahmen eingebettet sind, würde Stadt und Land tatsächlich sicherer machen. Doch solche Themen fassen die meisten Politiker nicht einmal mit Feuerzangen an. Zu viele widerstreitende "Interessen" hängen daran, zu viel Ärger heimst man sich ein. Auch jenen von Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto bis vor die Schule kutschieren.

Wenn es die eigene Bequemlichkeit und den eigenen Vorteil trifft, ist die Trauer um ein verstorbenes Kind rasch verflogen. Bis wieder etwas passiert. Und Eltern ihren Kindern erklären müssen, dass ihr Schulfreund nie mehr wiederkommt. So wie bei Henry. (Petra Stuiber, 20.2.2019)