Foto: Christine Ebenthal

Es gibt Personen, es gibt Typen, und es gibt "Liquid-Loft-Charaktere". Mitten in einem Wiener Café, aber doch an einem Seitentisch ein Treffen mit Chris Haring. Es muss schnell gehen, weil der Künstler in den Proben für ein neues Stück steckt. Also zur ersten Frage: Was sind Liquid-Loft-Charaktere? Harings Beschreibung, knapp gefasst: in Zwischenwelten tanzende Figuren, die sich ob ihrer Eigenentfremdung trotz ständiger Selbstsuche immer wieder neu verlieren.

Der Bautrupp dieser Welten heißt Liquid Loft und setzt sich aus einer Gruppe um den österreichischen Choreografen zusammen. Der hat vor wenig mehr als zwanzig Lenzen eine für heimische Verhältnisse geradezu traumhafte Karriere – Goldener Löwe der Biennale von Venedig inklusive – begonnen. Und zwar 1996 im Wuk mit einem Stück, das den nicht ganz nüchternen Titel Cephalopods. Tanzzeitlose Kopffüßer im Tempodrom der Realität trug.

Kein Kunstfuzzitum

Widersprüche muss man leben können. Wie damals wirkt Chris Haring auch heute mit 48 so gar nicht überkandidelt. Vom Typ her ist er zwar näher bei Bruce Willis als bei Jan Böhmermann, aber es reicht weder für Hipster noch Macho. Haring zeigt Zurückhaltung statt Kunstfuzzitum, Ironie und Selbstzweifel. Er ist geradlinig, doch nicht richtig unkompliziert. Gutmütig ja, aber er sagt's, wenn ihm etwas nicht passt.

Jetzt im Café würde er lieber über die Probleme der freien Tanzszene reden als über sich. Nur ungern lässt er sich davon abbringen, schließlich ist der gebürtige Burgenländer dieser Szene seit Beginn seiner Laufbahn sehr verbunden. Er selbst wurde erst als Tänzer bei Bert Gstettners Tanz*Hotel – aber auch zum Beispiel im berühmten Londoner DV8 Physical Theatre – auffällig, bevor er sich endgültig auf seine Arbeit als Choreograf stürzte.

Heute weist seine Werkliste rund 30 Stücke wie Mush:Room, Deep Dish oder Candy's Camouflage auf. Etliche Frühwerke, etwa Die Geschichte der Eliza D. (1992), verschweigt Haring heute diskret. Ebenso, dass er nach seiner Ausbildung in Wien und New York bereits vor Liquid Loft eine Gruppe namens Grenztanz hatte und in den Neunzigern ein Festival in der burgenländischen Cselley Mühle leitete.

"Körper-Junkie"

Nach einer spektakulären Kooperation mit Multimediakünstler Klaus Obermaier zauberte Haring nicht weniger als ein eigenes Universum auf die Bühne. Bewohner dieses Kunstweltraums sind ebendiese realitätsverschobenen Figuren, die er "Liquid-Loft-Charaktere" nennt – so konsequent gezeichnet, dass sie beinahe wie (Anti-)Helden einer Serie wirken.

Tatsächlich arbeitet Chris Haring gerne in Werkreihen. "Weil ich es meistens nicht schaffe, in einem Stück fertig zu werden", behauptet er. Außerdem ist es ihm wichtig, über "längere Zeit mit denselben Leuten" verschiedene Formate zu generieren. Zu seinen eingefleischten künstlerischen Partnern bei Liquid Loft gehören der Musiker Andreas Berger, der Dramaturg Thomas Jelinek und die Tänzerin Stephanie Cumming. Mit ihnen hat er dieses Biotop seines künstlerischen Schaffens auch gegründet. Damals, 2005, wurde bereits deutlich, dass ein Liquid-Loft-Charakter stets am Rande des Zerfließens, ein "Körper-Junkie" und "ursprünglicher Fremdkörper" sein musste. Dies setzte Cumming manifesthaft in dem hinreißenden Solo Legal Errorist um.

Irrungen und Wirrungen

Seither zielen die Wirrungen der Haring'schen Körper auf alles, was unter den Oberflächen von ganz normalen Leuten abgeht, deren Körperverständnis sich in medialen Zerrspiegeln formt. Liquid-Loft-Charaktere geraten zwischen Science-Fiction, Pop und Optimierungswahn, Kultur- und Gender-Shifts in abseitige Situationen. Ihre vibrierenden Gestalten quetschen sich gerne durch Paradiesgärten, während ihre Lippen zu Sounds aus der Dose tanzen.

In der jüngsten Liquid-Loft-Serie, Foreign Tongues, geht es seit 2017 in verschiedenen Varianten um Gefühlswelten, die durch fremde Sprachen, Dialekte und Slangs wuchern. Ab Donnerstag werden deren Weiten mit der Uraufführung von Models of Reality im Tanzquartier Wien um eine weitere Dimension wachsen: Jetzt verirren sich auch die Sprachen der Dinge zu den Tänzern – und dem Publikum. (Helmut Ploebst, 19.2.2019)