Die meisten Eltern bemühen sich, ihre Kinder fair zu behandeln. Es komme aber vor, dass Kinder ungleich viel geliebt werden, sagt Kinder- und Jugendpsychologe Manfred Wünsche.

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Auf dem Spielplatz. Eine Familie mit zwei kleinen Buben. Der Ältere ist schüchtern, introvertiert und alles andere als ein Draufgänger. Der Jüngere tollt herum, ist laut, zerstört lachend Sandkuchen und stößt jüngere Kinder um. Der kleine Sohn erhält viel Aufmerksamkeit von Mama und Papa. Aber nicht tadelnd oder genervt, sondern sie belohnen ihn mit Stolz, der oft in ein Schmunzeln verpackt wird. Der ruhige Größere erhält wenig Zuwendung, buhlt er um Aufmerksamkeit, wird das als lästig empfunden. Es scheint, dass die Eltern dem Zweitgeborenen mehr zugetan sind.

"Das kommt schon vor, dass Eltern ihre Kinder nicht gleich gerne mögen – aber was ist pathologisch und was nicht?", fragt der Salzburger Kinder- und Jugendpsychologe Manfred Wünsche. Nur weil ich mit einem Kind besser zurechtkomme, da es mir von der Art mehr liegt, müsse das nicht bedeuten, dass das die Liebe zu dem anderen beeinflusst – außer es bestehen konkrete Beziehungsstörungen zu einem der Kinder, erklärt der Experte.

Beziehungsstörungen können unterschiedliche Gründe und Ursachen haben. Häufig treten sie schon während der Schwangerschaft oder bald nach der Geburt auf. "Bis zu 20 Prozent der Frauen leiden nach einer Geburt an einer Wochenbettdepression, die Beziehung zum Kind kann dadurch enorm beeinflusst werden. Weil die Mutter grundlos traurig ist, sich nicht über das Kind freuen kann, alles zu anstrengend ist, sie das Schreien nicht aushält und es nicht schafft, eine Bindung aufzubauen. Das kann bei einem weiteren Baby, bei dem sie diese Depression nicht hat, ganz anders sein", sagt Wünsche. Heute wisse man um diese Schwierigkeiten, mit entsprechenden psychologischen und psychiatrischen Hilfen wird versucht gegenzusteuern.

Multifaktorielle Einflüsse

Zudem spielen die Startbedingungen eine große Rolle: "Wie geht es den Eltern, wenn ein Kind auf die Welt kommt? Wie sicher fühlen sie sich? Wie ist die ökonomische Lage, lebt die Familie sehr beengt? Wie gefestigt ist die Partnerschaft? Wie stabil fühlen sich die Eltern psychisch?

"Wenn ich etwa eine Angststörung habe, reagiere ich ganz anders auf mein Kind, das am Spielplatz oder zu Hause herumturnt. Oder wenn ich mich körperlich – beispielsweise durch einen Bandscheibenvorfall – nicht stabil fühle, werde ich schon mit einem 'normal' lebhaften Kind ein Problem habe. Wir wissen auch, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsdefiziten oder hyperaktive Kinder ein erhöhtes Risiko haben, von ihren Eltern vernachlässigt oder misshandelt zu werden", sagt Wünsche, der auch in der Verhaltenstherapie, im Elterntraining und in der Psychotherapie tätig ist.

Es gibt keine Welt ohne Ungleichheit

Die wenigsten Eltern würden zugeben, dass sie einem Kind mehr zugetan sind. Sicher bemühen sich die allermeisten darum, ihre Kinder gleich zu behandeln, aber manchmal gelingt das eben nur nahezu. "Ungleichheit ist eine Grunderfahrung. Es ist vor allem der Kontext wichtig, in dem sie passiert. Es gibt in jeder Gesellschaft 'Sortiermaschinen' wie Schule oder Beruf, die per se Ungleichheiten herstellen. In der Familie passt sie aber einfach nicht hin, denn sie sollte ein Ort sein, an dem Kinder möglichst früh Förderung und Solidarität erfahren", stellt der Soziologe Martin Diewald von der Universität Bielefeld fest.

Doch können sich Eltern dagegen wehren, ein Kind mehr und eines weniger zu lieben? Der Entwicklungspsychologe und Familienforscher Hartmut Kasten bejaht das. "Die Grundbedingung dafür ist, dass man dieses Gefühl wahrnimmt und der Wille vorhanden ist, etwas daran zu ändern." Seiner Meinung nach besteht die beste Strategie, seine Liebe gerecht aufzuteilen, darin, sich um Fairness und Gerechtigkeit zu bemühen. "Jedes Kind ist es wert, nach seinen in ihm schlummernden Neigungen, Fähigkeiten und Beschäftigungsvorlieben behandelt und gefördert zu werden."

Kindliche Strategien

Wenn aber Familien etwa nur wenig Geld für Freizeitgestaltung, Musikunterricht oder eine kostspielige Sportart zur Verfügung haben, kann es schon sein, dass die Ressourcen nicht gerecht aufgeteilt werden, sondern die Eltern jenes Kind fördern, von dem sie sich am meisten versprechen. Benachteiligung kann aber auch mit der Persönlichkeit des Kindes zusammenhängen. Es gibt den Sonnenschein und das Muffelkind. Den Nachwuchs, der sich schnell für etwa begeistern lässt und viele Angebote annimmt, und den, der sich nur schwer motivieren lässt.

Kinder entwickeln schon relativ bald unterschiedliche Strategien, um sich gegen unsolidarisches oder ungerechtes Verhalten zu wehren. "Protest ist ein häufiges Mittel, mit dem Kinder reagieren, um das zu bekommen, nach dem sie Bedürfnisse haben. Protest ist hier eine gesunde Reaktion," findet Kinderpsychologe Wünsche.

Wenn Eltern darauf reagieren, lernt das Kind, dass Protest funktioniert und sie mit ihrem Verhalten jenes der Eltern beeinflussen können. Sie lernen aber auch, dass Erwachsene sich korrigieren können: "Du hast recht, das war wirklich ungerecht." Wenn der Protest aber nicht ankommt oder sogar noch zu einer schlimmeren Reaktion oder gar Gewalt führt, wird das Kind alternative Reaktionen ausbilden. "Es zieht sich zurück, verstummt, passt sich an oder reagiert seinerseits aggressiv – weil es dann das Gefühl hat, dass seine Bedürfnisse nicht wertvoll sind", erläutert Wünsche.

Das ungeliebte Kind

Wie belastend sich das anfühlt, zeigt ein Posting aus dem Internetforum "Das ungeliebte Kind". Hier schreibt eine junge Frau: "Meine Schwester ist das gewünschte Kind – ich das ungewünschte. Das weiß ich auch. Meine Mutter hat mir oft gesagt, dass es besser wäre, wenn es mich nicht geben würde. Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen. Gut zu sein. Perfekt. Ihr nie Kritikpunkte zu liefern. Aber für sie bin ich eine einzige Enttäuschung. Ich habe mich immer gefragt, was ich falsch mache. Was falsch an mir ist."

"Solche Realitäten sind häufiger als angenommen, doch ich glaube auch, dass die meisten Eltern sich bemühen, das nicht so zu leben", resümiert Manfred Wünsche. (Anja Pia Eichinger, 23.2.2019)