"Kolarics Erben – Die Tschuschenkinder von einst" hieß eine Sendung im ORF im Jahr 2009. Thema war unter anderem das berühmte Plakat, das für Toleranz gegenüber Gastarbeitern werben sollte, den Tschuschen, wie sie von vielen abfällig genannt wurden.

Foto: orf/kreuz und queer/kolarics erbrn

Als ich nach Österreich kam, verstand ich nicht mehr als zehn Worte auf Deutsch. Wenn ich jetzt, ein Vierteljahrhundert später, auf diese Zeit zurückschaue, war das Erlernen der neuen Sprache eine große Herausforderung, aber auch ein großes Vergnügen. Okay, zugegeben, ich war eine Streberin, und Sprache war und ist meine große Liebe.

Deswegen ist auch der Verlust der Sprache, meiner ersten Sprache, meine große Angst. Die Angst ist real. In meiner ersten Sprache würde es mich sehr viel Mühe kosten, diesen Text fehlerlos zu verfassen. Ich verstehe die Sprache natürlich, ich lese Literatur, Nachrichten und führe Gespräche darin, aber der Wortschatz schrumpft zusehends. Es schmerzt, wenn man merkt, dass die Satzstellung nicht hinhaut oder das gesuchte Wort nicht und nicht über die Lippen kommen will.

Noch mehr schmerzt es, wie in Österreich mit der Muttersprache vieler Kinder umgegangen wird, die dort stehen, wo ich vor 25 Jahren gestanden bin.

Sprachlose Kinder?

"Die Hälfte der Schüler spricht zu Hause nicht Deutsch", "Ein Viertel aller Schüler hat nicht Deutsch als Muttersprache", "Schule in Not: Wo Deutsch eine Fremdsprache ist", "Ganze Klassen ohne Muttersprache Deutsch": Das ist eine kleine Auswahl an Schlagzeilen über Migranten- und Flüchtlingskinder an österreichischen Schulen, und sie bilden den medialen und politischen Diskurs zum Thema leider sehr präzise ab.

Die Debatte, welche Sprache Kinder sprechen oder eben nicht sprechen, wird seit Jahren ausschließlich problemorientiert geführt. Es ist tatsächlich ein Problem, wenn Lehrerinnen und Lehrer alleine vor einer Klasse stehen, in der viele Kinder sitzen, die diese Unterrichtssprache nicht ausreichend beherrschen. Und es ist ein großes Problem, wenn diese Lehrerinnen und Schulen keine zusätzlichen Ressourcen bekommen, um ihre Schüler auf ein ausreichendes sprachliches Niveau zu bringen.

Debatte ohne Empathie

Es ist aber auch ein großes gesamtgesellschaftliches Problem, wenn wir die Debatte über dieses Thema respektlos, empathielos und vollkommen an den Bedürfnissen der Kinder vorbei führen. Damit wir uns richtig verstehen: Hier geht es nicht um Französisch, Englisch oder eine andere Sprache, die derzeit Prestige hat. Die Verachtung gilt ausschließlich jenen Sprachen, die nichtprivilegierte Kinder sprechen.

Kaum jemand wird es als problematisch ansehen, wenn Kinder zu Hause ausschließlich Französisch, Englisch oder Japanisch reden oder Medien in diesen Sprachen konsumieren. Niemand wird ein Problem damit haben, diese Sprachen auf dem Schulhof oder in der Pause zu hören.

Aber es wird tatsächlich immer wieder darüber debattiert, ein Grundrecht der Kinder auf ihre Mutterspreche zu beschneiden und ihnen zu verbieten, in den Unterrichtspausen Türkisch, Arabisch, Bosnisch oder Serbisch zu reden.

Wo sind die Vorbilder?

Das "Deutschproblem" verkommt zum Pingpongball im rechtspopulistischen Diskurs um misslungene und angeblich unmögliche Integration. Dabei wird eine einfache Tatsache scheinbar vergessen: Diese Kinder sprechen bereits eine Sprache, die Sprache ihrer Eltern. Die Muttersprache, die sie zu Hause hören und miteinander in der Schule reden, ist vielleicht nicht die Hochsprache – das ist sie in österreichischen Familien übrigens auch nicht immer. Und trotzdem wäre hier anzusetzen, bei der Muttersprache.

Es ist wissenschaftlich unumstritten, dass die bereits vorhandenen Sprachkenntnisse den Erwerb einer neuen Sprache beeinflussen. Um dieses Potenzial zu nutzen, müsste der Muttersprachenunterricht ausgebaut und mit der Deutschförderung verknüpft werden.

Außerdem braucht unser Schulsystem Lehrkräfte, die den gleichen kulturellen und sprachlichen Background wie die Schüler haben. Die Kinder brauchen Vorbilder, sie brauchen jemanden, der oder die sie versteht, sprachlich und emotional.

Bauern und Tschuschen

Apropos Emotion. Deutsch ist inzwischen ohne Zweifel meine stärkere Sprache, aber ich schimpfe, rechne und träume in meiner Muttersprache. Und wenn ich aufgeregt, besonders glücklich oder besonders wütend bin, wird die Sprache holprig, und ich habe einen unüberhörbaren slawischen Akzent.

Neulich sprach ich mit einem sehr humorvollen und empathischen Menschen über das freie Reden und über Akzente. Sein Rat: "Bemüh dich nicht, den Akzent zu unterdrücken. Ich zum Beispiel werde immer wie ein Kärntner Bauer klingen." "Und ich wie ein Tschusch*", sagte ich. Und das ist okay so. (Olivera Stajić, 19.2.2019)